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Geisteswissenschaftliche Informationswissenschaft

Leider mit fast einem Jahr verlagsseitiger Verspätung erscheint meine Rezension von zwei interessanten Publikationen zu einer kulturwissenschaftlichen „Neuinterpretation“ der Informationswissenschaft: Information – Wissenschaft und Praxis, 75,2-3 (2024) 138-140 – DOI: 10.1515/iwp2023-2031

Hayot, Eric; Detwyler, Anatoly; Pao, Lea (Hg.) (2022): Information. A reader. New York: Columbia University Press. VII + 393 S.; ISBN 978-031-18621-6 (Hb); 110,- USD und:

Kennerly, Michele; Frederick, Samuel; Abel, Jonathan E. (Hg.) (2021): Information. Keywords. New York: Columbia University Press. VIII + 220 S., 978-0231-19876-9 (Hb); 110,- USD.

An zwei Stellen hatte ich schon darauf hingewiesen, dass wir ggf. einem tiefergehenden Paradigmenwechsel beiwohnen, der der „klassischen“, institutionalisierten Informationswissenschaft vielleicht Probleme bereiten wird. So ist in gewisser Weise auffällig, dass zwei der großen Wissenschaftler des Faches sich mit historischen Themen beschäftigen: Michael Buckland mit einer Aufarbeitung der Bibliotheksgeschichte in der Nachkriegszeit in Japan und David Lankes mit der Frage der Beziehung zwischen Krieg und Informationswissenschaft (vgl. meinen Eintrag hier).

In dem voluminösen Werk von Ann Blair (Harvard), Paul Duguid (Berkeley), Anja-Silvia Goeing (Harvard/Zürich) und Anthony Grafton (Princeton) (2021): Information. A Historical Companion. (siehe meine Besprechung hier) wurde dieser Trend zu einer historischen Einordnung der Betrachtung des Konzeptes Information schon wundervoll aufgearbeitet. In den zeitgleich erschienenen zwei Bänden aus dem Kontext der Penn-State University (Information. A Reader und Information. Keywords) wird diese Neubetrachtung des zentralen Konzeptes unseres Faches jedoch noch weiter getrieben. Während im „Historical Companion“ der genuin historische Ansatz von Ann Blair (Too much to know, 2010) und Peter Burke (A Social History of Knowledge (2001, 2012; dt.: Papier und Marktgeschrei und Explosion des Wissens) überwiegt, ist bei den beiden Konkurrenzbänden sicher der Ausgangspunkt die amerikanische Übersetzung von Peter Janichs Was ist Information. Kritik einer Legende (Suhrkamp 2006) durch zwei der beteiligten Herausgeber (Eric Hayot und Lea Pao) (What is Information, Minneapolis 2018). In dem Vorwort dazu beschreiben die Übersetzer das Fach Informationswissenschaft und die Behandlung des Konzeptes Information als „cacophonie“ (S. X). Sie heben den eigenständigen Ansatz Janichs als Kulturwissenschaftler hervor und sehen ihn als eine Art Neustart Diskussion um „Information“ in einer sog. Informationsgesellschaft. Janich hatte, was den Übersetzern evtl. nicht vorlag, kurz vor seinem Tod in seinem Hauptwerk (Handwerk und Mundwerk. Über das Herstellen von Wissen. München 2015), diese Position einer Kritik der Information anthropologisch weiter ausgebaut und erneut Shannon und seinen vermeintlichen Bezug auf Morris Zeichentheorie ad absurdum geführt. Selbst bei Charles Morris ist die syntaktisch/technische Ebene nicht „die erste“ wie Claude Shannon und Warren Weaver suggerieren. Janich wirft den Mathematikern der Mitte des 20. Jahrhunderts wie Claude Shannon und Norbert Wiener trotz ihrer Verwendung des Konzeptes Kommunikation eine Naturalisierung von Information vor, die in der Folgezeit viele Missverständnisse hervorrief.

Eric Hayot und Lea Pao  vergleichen interessanterweise Janichs Ansatz mit dem Harolds Garfinkels (1917-2011), der von der Siegener Medien- und Informationswissenschaftlerin Anne Warfield Rawls ebenfalls erst unlängst der interessierten (amerikanischen) Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde (Toward a Sociological Theory of Information, Boulder 2008). Garfinkel hatte sich als Soziologe in den 1950er Jahren mit der „Informationstheorie“ Shannons beschäftigt und war zu dem ihr konträren Schluss gekommen, dass jede Sozialtheorie mit dem Informationsproblem beginnen muss und nicht umgekehrt. Garfinkel veröffentlichte sein Papier zu Shannon und der Informationstheorie zu Lebzeiten nicht persönlich, wohl weil ihm die damit begründete Informationssoziologie zu sehr der Phänomenologie der Lebenswelt von Alfred Schütz ähnelte, auf die er sich bezieht. Schütz gilt als einer der Begründer der Praxeologie (Praxistheorie), zu der schließlich nicht nur Pierre Bourdieu, Anthony Giddens bzw. Theodore Schatzki und Andreas Reckwitz gezählt werden, sondern auch Activity Theory und Actor-Network-Theory.

In diesem Geist einer kulturwissenschaftlichen Erneuerung der Diskussion um Information hält vor allem der Reader eine Reihe von transdisziplinären Entdeckungen bereit. Wir treffen auf Namen, die uns wohl vertraut sind, wie Shannon, Wiener, Bateson, Janich, Foucault, Bush, McLuhan, Flusser, Virilio, aber auch auf in unserem Feld unbekanntere aus andere Disziplinen wie Harold Garfinkel, Katherine Hayes, Friedrich Hayek, Claude Lévi-Strauss, Martin Heidegger, Walter Benjamin, Umberto Eco, Sigmund Freud oder Friedrich Kittler. Die ausgewählten Texte bzw. deren Auszüge sind teilweise die regelrechten Klassiker wie der in der Informationswissenschaft häufig bemühte „As we May Think“ von Vannevar Bush oder der in der Literaturwissenschaft immer wieder diskutierte „Wunderblock“ von Siegmund Freud. Aber bei manchen Autoren werden andere Spuren gelegt, als die von einem Informationswissenschaftler erwarteten, etwa bei Gregory Bateson, von dem nicht die berühmten Passgen aus Mind and Nature abgedruckt werden, sondern ein allerdings ebenso interessanter Text zum Thema „The Cybernetics of ‚Self‘: A Theory of Alcoholism“.

Janichs Was ist Information war eine zeitlang zentrale Lektüre in unserem Masterstudiengang, bis ich merkte, dass die vielen interdisziplinären Voraussetzungen an der Fachhochschule immer mehr fehlten. Der Masterstudiengang an der FH ist dann ja auch nach meiner Pensionierung geschlossen worden. In meinem Seminar „Geschichte der Information“ (WS2022/23) an der Humboldt-Universität war dieser fachliche Kontext zwar teilweise gegeben, aber mein Intermezzo am IBI reichte nicht zu einer Konsolidierung der Thematik dort.

Hier das Preprint meiner Rezension (nicht Verlagsfassung), aus dem einzelne Passagen verwendet wurden.

 

Seniorprof

Obwohl ich ja schon ziemlich lange am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft (IBI) im Fernstudium unterrichte, ist es doch ein neues Gefühl, seit heute dort im regulären Betrieb dabei zu sein. Ich weiß zwar noch nicht ganz genau, was eine „Seniorprofessur“ bedeutet (den Vertrag habe ich letzte Woche unterschrieben), aber die Vorfreude ist dennoch groß, endlich mal wieder „klassische“ universitäre Lehre machen zu dürfen. Mir hat Lehre immer recht viel Spaß gemacht, z.B. an der Uni Köln oder in Stuttgart. Ich hatte zwar auch schon früh Lehraufträge an der FH Köln, aber die 18 SWS dann später an der FHP waren dann doch etwas anderes.

Für das Sommersemester habe ich die Gelegenheit, ein Seminar im Vertiefungsbereich anbieten zu können. Ich habe dabei die Beobachtung aufgegriffen, dass in der Informationswissenschaft in letzter Zeit recht viele Publikationen mit historischen Bezügen erschienen sind, wie z.B. Michael Bucklands „Ideology and Libraries“ (2021) oder Ann Blairs und Paul Duguids (et al.) „Information. A Historical Companion“ (2021). [zu beiden sind auch Rezensionen von mir in der Pipeline]

Der Titel des Seminars lautet deshalb: Geschichte und internationale Politik der Information – von der Seidenstraße der Antike bis zu den InfoWars des Cyberspace

Die Idee war dann auch, ein solches Seminarangebot für Studierende mit entsprechenden Zweitfächern zu konzipieren, damit hier Interdisziplinarität gelebt werden kann. Das betrifft natürlich Historiker und Politologen oder Kulturwissenschaftler, aber auch Romanisten (Französisch-Studierende), weil wir natürlich auch Paul Otlet und Henri Lafontaine besprechen müssen, die ja beide leider ziemlich aktuell geworden sind aufgrund ihrer Rolle als Friedensbotschafter nach dem Ersten Weltkrieg.

Die Erläuterung zum Seminar sind auf dieser Seite ausführlicher.

Was die Rolle als Seniorprof sonst noch bedeutet: ich lasse mich überraschen.

Vertrauen und Verantwortung

Als erster Beitrag des Jahrgangs 73 (2022) unserer renommierten deutschen informationswissenschaftlichen Fachzeitschrift Information. Wissenschaft & Praxis, die ich vor langer Zeit noch als Nachrichten für Dokumentation abonniert hatte, ist soeben mein Beitrag zu dem „Abschiedssymposium“ zu meinen Ehren erschienen. Statt Ende März, zum Zeitpunkt meiner Entlassung, hatte der Fachbereich Informationswissenschaften der Fachhochschule Potsdam am 25. Juni 2021 ein Symposium unter dem von mir gewünschten Motto „Verantwortung der Informationswissenschaften“ veranstaltet, in der Hoffnung, dass im Sommer keine Pandemie-Einschränkung mehr sein würden. Leider wurde es doch eine „hybride“ Verabschiedung mit vielen Gästen am Screen.

Mein Beitrag beschäftigte sich mit der Erkenntnis aus meinem langjährigen Forschungsprojekt ALMPUB, dass die (einzigen?) gesellschaftlichen Institutionen, die noch Vertrauen in der Bevölkerung genießen, ausgerechnet die Kulturerbeeinrichtungen wie Archive, Museen und Bibliotheken sind. Und zieht daraus die Schlussfolgerung, dass diesen – bzw. ihren Unterhaltsträgern – damit eine hohe Verantwortung erwächst.

Hobohm, Hans-Christoph (2022): Vertrauen und Verantwortung. Kardinalprinzipien der („Informations-“) Infrastruktur. In: Information – Wissenschaft & Praxis 73 (1), 1-11. DOI: 10.1515/iwp-2021-2184.

Im gleichen Heft der Zeitschrift berichten meine Kollegin Antje Michel und mein Kollege Rolf Däßler über die Tagung als Ganzes und geben ein inhaltsreiches Bild der anderen Beiträge und der Veranstaltung als Ganzes. Es ist ein wahres Vergnügen, dies nach einem halben Jahr Unruhestand noch einmal Revue passieren zu lassen. Herzlichen Dank für die warmen Worte aus der Fachhochschule:

Däßler, Rolf; Michel, Antje (2022): Zur gesellschaftlichen Verantwortung der Informationswissenschaften. Fachsymposium und feierliche Verabschiedung von Prof. Dr. Hans-Christoph Hobohm aus dem aktiven Dienst an der FH Potsdam. In: Information – Wissenschaft & Praxis 73 (1), S. 31–35. DOI: 10.1515/iwp-2021-2190.

Beide erwähnen und referieren auch die Laudatio, die Vivien Petras anläßlich der anschließenden Verabschiedung gehalten hatte. Diese war schon im Oktober in dem zentralen deutschen Fachorgan der Bibliothekswelt erschienen:

Petras, Vivien (2021): Laudatio für Prof. Dr. Hans-Christoph Hobohm zur Emeritierung von der Fachhochschule Potsdam am 25. Juni 2021. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 68 (5), S. 305–309. DOI: 10.3196/186429502068573.

Auch dafür nochmals mein ganz herzlicher Dank.

In beiden Welten, in denen ich in den letzten 30 Jahren zu Hause war, von der DGI und den Information Professionals bis zu den großen und kleinen Bibliotheken, aus denen die Fernweiterbildungsteilnehmer kamen und die Absolventen gingen. Es freut mich besonders, dass diese beiden ehrwürdigen Organe Würdigungen zu meiner „Emeritierung“ drucken.

Ob soviel Ehre und Wertschätzung kann ich nur vor Demut erblassen. Während meiner „aktiven“ Zeit hatte ich oft nicht den Eindruck dieses hier gezeichneten Bildes. Ich habe während meiner Zeit als Hochschullehrer stets eine sehr hohe Verantwortung empfunden und hoffe, dass das Vertrauen, das Kolleg_innen, Studierende und die Fachwelt(en) mir entgegen gebracht haben, nicht enttäuscht wurde. Ehrlich gesagt: ich bin froh, jetzt „verantwortungslos“ zu sein und wünsche dem Fachbereich der FHP eine glückliche Hand ohne mich. Die Fachdisziplinen werde ich wohl noch eine Weile belästigen…

 

Rezension(en) des ALMPUB Abschlussbandes

Cover ALMPUB Anthology

Mittlerweile gibt es eine Reihe von Rezensionen zum Abschlussband des ALMPUB Projektes.

Interessant war vor allem die Besprechung in JASIST von Joacim Hansson [1], der dem Buch und damit dem Projekt attestierte, dass es

can thus be regarded as an exclamation mark within emerging discourses

und:

this volume makes abundantly clear the need to shift from privileging habermasian social interpretation, and instead make way for poststructural theoretical and methodological frameworks better suited for today’s complex societies.

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Informationswissenschaft und Demokratie

Der letzte Vortrag im Potsdamer Informationswissenschaftlichen Kolloquium fasste das Gesamtthema noch einmal konkret zusammen. Prof. Dr. Joachim Griesbaum, Uni Hildesheim (Institut für Informationswissenschaft und Sprachtechnologie) berichtete von den Erfahrungen und Forschungsergebnissen, die dort in der letzten Zeit zum Themenkomplex „Informationswissenschaft und Demokratie“ gesammelt wurden. Continue reading