Lesen

Ich hatte das Vergnügen, als Ko-Herausgeber der Reihe „Bibliothek im Kontext“ Beiträge dieses spannenden Buches zu begutachten (double blind peer review):

Alker-Windbichler, Stefan; Kuhn, Axel; Lodes, Benedikt; Stocker, Günther (Hg.) (2022): Akademisches Lesen. Medien, Praktiken, Bibliotheken. Göttingen: V & R unipress, Vienna University Press (Bibliothek im Kontext, Band 5).

Der Band greift ein Thema auf, das Wayne Wiegand mahnend der Bibliothekswissenschaft schon 1999 ins Stammbuch geschrieben hatte. In seinem Text „Tunnel Vision and Blind Spots“ [1]  machte er damals darauf aufmerksam, dass Bibliotheken in zwei wesentlichen  Punkten ihrer Arbeit (noch) zu wenig wüssten: die „Bibliothek als Ort“ und die Frage, was an diesem Ort eigentlich gemacht wir, d.h. was „Lesen“ dort eigentlich bedeutet. Die Bibliothek als Ort, „Library as a space“, ist seitdem u.a. Dank der unermüdlichen Forschungen und Publikationen von Ragnar Audunson einigermaßen in den Blick genommen worden. Bis hin zu der mittlerweile Standardvorstellung, Bibliotheken seien „Dritte Orte“. Wayne Wiegand machte allerdings vor wenigen Jahren nochmal darauf aufmerksam, dass die Hausaufgaben noch nicht erledigt seien [2].

Der zweite blinde Fleck scheint aber dennoch gerade aufgehellt zu werden mit einer Reihe von Publikationen. Den Anfang machte André Schüller-Zwierlein in einem viel beachteten Beitrag in o-bib [3]. Er setzt seine Initiative, sich diesem Themenfeld zu widmen, nun aktuell fort mit einem Themenheft der Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie (ZfBB) Bd. 70 (2023), Heft 3). Dort diskutiert er mit internationalen Kollegen die Frage einer „höheren Lesekompetenz“ [4] und verschiebt den Schwerpunkt des Themenheftes auf die Rolle des informierten Bürgers in der Demokratie [5].

Auch die Forschungsbibliothek Krekelborn (Michael Knoche) berichtet darüber, so dass der Wiener Sammelband nun in einem ganz prominenten Licht erscheint. Er sei ebenfalls zur Lektüre empfohlen, nicht nur – neben vielen anderen – wegen Klaus Ulrich Werners Beitrag zu „Baulich-gestalterischen Anforderungen an das akademische Lesen in der Bibliothek“ (S.309-324), sondern vielleicht vor allem wegen des exzellenten Forschungsberichtes von Axel Kuhn: „Akademisches Lesen – ein unübersichtliches Forschungsfeld“ (S.327-364).

Und last but not least: in meiner Funktion als Vorsitzender der Potsdamer Bibliotheksgesellschaft kann ich darauf hinweisen, dass auch die Potsdamer Stadtbibliothek Leseförderung in einem neuen Sinn entdeckt hat. Seit Anfang des Jahres unterstützen wir nämlich dort eine Reihe aus dem „Shared Reading“ Kontext: Lesen macht glücklich. Es handelt sich also nicht nur um Akademisches Lesen, sondern um kritisches Lesen und allgemeine Lesefähigkeit als Basis für eine freiheitlich demokratische Gesellschaft.

[1] Wiegand, Wayne A. (1999): Tunnel Vision and Blind Spots. What the Past Tells Us about the Present; Reflections on the Twentieth-Century History of American Librarianship. In: Library Quarterly 69, S. 1–32.

[2] Wiegand, Wayne A. (2015): “Tunnel Vision and Blind Spots” Reconsidered. Part of Our Lives (2015) as a Test Case. In: The Library Quarterly 85 (4), S. 347–370.

[3] Schüller-Zwierlein, André (2017): Die Bibliothek als Lesezentrum. In: O-bib 4 (2), S. 14-34.

[4] Kovač, Miha; Mangen, Anne; Schüller-Zwierlein, André; van der Weel, Adriaan (2023): Warum höhere Lesekompetenzen und -praktiken wichtig sind. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 70 (3), S. 141–157

[4] Schüller-Zwierlein, André (2023): Bibliotheken und Demokratie. Ein erneuter Anlauf in gefährlichen Zeiten. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 70 (3), S. 132–140.

ALMPUB auf Japanisch

Das Buch des ALMPUB Projektes:

Audunson, Ragnar; Andresen, Herbjørn; Fagerlid, Cicilie; Henningsen, Erik; Hobohm, Hans-Christoph; Jochumsen, Henrik et al. (Hg.) (2020): Libraries, archives and museums as democratic spaces in a digital age. Berlin: De Gruyter Saur.

ist jetzt auch in japanischer Übersetzung erschienen. Tipp für alle, die nicht so gut Englisch können. 😉 (Offensichtlich leider nicht als eBook und damit nicht Open Access wie die Ausgabe bei de Gruyter.)

Audunson, Ragnar; Andresen, Herbjorn; Fagerlid, Cicilie; Henningsen, Erik; Hobohm, Hans-Christoph; Jochumsen, Henrik et al. (2022): デジタル時代における民主的空間としての図書館、アーカイブズ、博物館. Kyōto: Shōraisha.

LaiLuMu in siebter Auflage

In meinen  ersten Studienjahren der Bibliothekswissenschaft in den 1980ern in Köln geisterte ein eigenartiges Kürzel durch die Seminarräume: „LaiLuMu“. Bis ich realisierte, was dies wirklich war, dauerte es einige Zeit, zumal ich zunächst nicht verstand, was die „Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation“ von Klaus Laisiepen, Ernst Lutterbeck und Karl Heinrich Meyer-Uhlenried mir tatsächlich für mein Nebenfachstudum der Bibliothekswissenschaft bringen sollten. Da wurde nichts von RAK oder von Verbundkatalogen und schon gar nichts von Bibliotheken geschrieben. Erst langsam wurden die Grundlagen auch für mich zur „orangenen Bibel“ meiner Wissenschaften, vor allem seit die Abkürzung KSS wurde durch die neuen Herausgeber „Kuhlen, Seeger, Strauch“ (später „Kuhlen, Semar, Strauch“ „KSS6“).

Nun müssen wir uns an einen neuen Titel gewöhnen und ein neues Kürzel überlegen: die siebte Auflage wurde jetzt völlig neu von Rainer Kuhlen, Dirk Lewandowski, Wolfang Semar und Christa Womser-Hacker herausgegeben. (KuLeSeWoHa?)

Kuhlen, Rainer; Lewandowski, Dirk; Semar, Wolfgang; Womser-Hacker, Christa (Hg.) (2023): Grundlagen der Informationswissenschaft. 7., völlig neu gefasste Ausgabe. Berlin: De Gruyter Saur. (Open Access! – gebunden: 220,- Euro)

Ich hatte die Ehre, „eines der wichtigsten und schwierigsten“ (R.Kuhlen) Kapitel beitragen zu dürfen und konnte dafür meine bisherigen Beiträge zu Bibliotheken und Informationsverhaltensforschung an andere weitergeben.

Hobohm, Hans-Christoph (2023): A3 Theorien in der Informationswissenschaft. In: Rainer Kuhlen, Dirk Lewandowski, Wolfgang Semar und Christa Womser-Hacker (Hg.): Grundlagen der Informationswissenschaft. 7., völlig neu gefasste Ausgabe. Berlin: De Gruyter Saur, 45-55.

Den Text zu schreiben war eine interessante Aufgabe, für die der zur Verfügung stehende Raum leider zu knapp war. Es mussten von den Herausgebern Kürzungen vorgenommen werden, die dem Abschnitt nicht gut getan haben. Auch würde ich jetzt den Text (nach weitergehenden Lektüren und aktuellen Diskussionen im LIS Bereich) sicher anders schreiben…

Es ist aber interessant, dass in dem Grundlagenwerk nun (endlich) auch Theorie und Metatheorie behandelt werden. Zumindest die Beschäftigung mit Theoriebildung kennzeichnet ja den Reifegrad einer Wissenschaftsdisziplin. Insbesondere das Einführungskapitel: Kuhlen, Rainer; Semar, Wolfgang (2023): A1 Information – ein Konstrukt mit Folgen. S. 3-26. bietet mal wieder spannende neue Ansätze. (Stichwort 4R Modell, das die Tore weit öffnet in Richtung Soziologie mit Relevanz und Resonanz als neu zu Reduktion und Reaktion hinzugekommene Dimension der Information.). Man kann der Disziplin in ihrem deutschen Grundlagenwerk wunderbar bei ihrer Entwicklung zuschauen.

Ich finde, die „völlige Neufassung“ ist in Inhalt und Struktur wirklich gelungen. Herzlichen Glückwunsch den Herausgebern und Autoren!

Geschichte, der neue Trend?

In meiner Besprechung von Blair/Duguid et al.: Information. A Historical Companion. 2021 (in Information. Wissenschaft und Praxis) hatte ich es schon angedeutet: ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir eine historisch-geisteswissenschaftliche Wende der Informationswissenschaft erleben.

Dazu sind jetzt zwei weitere Besprechungen von mir erschienen:

Buckland, Michael K.: Ideology and Libraries California, Diplomacy, and Occupied Japan, 1945–1952 – With Masaya Takayama. Lanham Md.: Rowman & Littlefield, 2021. ISBN: 978-1-5381-4314-8, 112 S., 70 Euro (Taschenbuch: Juni 2022 (1538171201): 36,50 €; E-Book (9781538143155): 33,99 €)). In: Bibliothek. Forschung und Praxis. 46,3 (2022), 515-517.

Dieses Buch war die Anregung für mein Seminar am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin: „Geschichte und internationale Politik der Information – von der Seidenstraße der Antike bis zu den InfoWars des Cyberspace“. Und wie es so ist: man lernt am meisten durch eigene Lehre. Im Laufe der Vorbereitung bzw. sogar der Durchführung des Seminars im Sommer erschienen weitere einschlägige Publikationen, wie z.B. das oben erwähnte „Companion“ und eine Art Bibliotheksgeschichte des 20. Jahrhunderts von David Lankes, die wirklich wunderbar in das Seminar passte: Lankes, R. David (2021): Forged in war. How a century of war created today’s information society. Lanham: Rowman & Littlefield. David Lankes fasst hier wunderbar zusammen, was ich in vielen meiner Vorlesungen immer nur verdachtsweise geäussert hatte: der Krieg der Vater aller Dinge, vor allem der Informationstechnik. Dieses Buch habe ich aus Zeitgründen nicht rezensiert. Empfehle es aber dennoch der Lektüre. Meine Besprechung zu dem Buch von Buckland will ich hier nicht wiederholen: sie ist OA bei De Gruyter (Link s.o.).

Auch in meiner Funktion als Vorsitzender der Potsdamer Bibliotheksgesellschaft hatte ich die Ehre, die lokale Bibliotheksgeschichte zu lesen und für BuB zu besprechen:

Geschichte der »Volksbücherei und Lesehalle« Potsdam. Die Mühen einer städtischen Einrichtung. Besprechung von: Tygör, Lutz: Die Potsdamer städtische Volksbücherei: Von der Eröffnung 1899 bis zur Zerstörung der Stadtbücherei 1945. Leipzig: Engelsdorfer Verlag, 2022. 210 Seiten: Illustrationen. ISBN 978-3-696940-149-1 – Broschur: EUR 14,50. In: BuB. Forum Bibliothek und Information, 74,12 (2022).

Schließlich erschien unlängst noch ein „Reader“ als Begleitband des o.a. „Companion“:

Hayot, Eric; Detwyler, Anatoly; Pao, Lea (Hg.) (2022): Information. A reader. New York: Columbia University Press.

Eric Hayot und Lea Pao hatten vor kurzem eine Übersetzung des sehr anregenden kulturphilosophischen Buches von Peter Janich: „Information. Kritik einer Legende„. Frankfurt: Suhrkamp, 2006 vorgelegt:

Janich, Peter (2018): What is information? Minneapolis, London: University of Minnesota Press (Electronic mediations, 55).

was diese wohl dazu gebracht hat, den Reader zusammenzustellen, in dem neben einem Auszug aus dem Buch von Janich und Texten von Shannon, Bush und Wiener insbesondere auch Texte von Garfinkel, Foucault, Hayek (!), Lévi-Strauss, Heidegger, Benjamin, Eco, Ong, Freud, Flusser und Kittler als „Klassiker“ der Informationswissenschaft zu Wort kommen.

Und schließlich spült mir meine ResearchGate Citation Timeline eine neue Art Einführung in die „Informationswissenschaft“ auf den Tisch:

Pintar, Judith; Hopping, David (2023): Information science. The basics. Milton Park, Abingdon, Oxon, New York, NY: Routledge (The basics).

auch hier – mit wenig Bezug auf „unsere“ Grundlagenhandbücher wie Stock/Stock, Rubin/Rubin, Bawden/Robinson oder Floridi wird ein irritierend anderer Blick auf unsere Disziplin geworfen. Ich habe sie mir beide für weitere Besprechungen vorgenommen. Mal sehen, ob ich die Zeit dazu finde.

Internationale Fachpresse

Eine weitere Publikation aus dem ALMPUB Kontext erschienen!

Dank der unermüdlichen Redaktionsarbeit von Jamie Johnston und einer erweiterten Runde von Autorinnen konnten wir mit einer jetzt noch größeren Anzahl von Teilnehmerländern eine vergleichende Analyse anstellen zum Selbstbild von Bibliothekarinnen in sieben europäischen Ländern. Neben den bisherigen Ländern der ALMPUB Studien (Dänemark, Norwegen, Schweden, Ungarn und Deutschland) sind jetzt noch Island und Polen dazugekommen mit Berufsgruppen repräsentativen Erhebungen.

Deutliches länderübergreifendes Ergebnis ist die Akzeptanz des social turn der Bibliotheksarbeit, während der digital turn leider noch etwas am Horizont wartet.

The activities realized in the library’s physical space like special events, conversation groups or creative programs, as well as activities outside the library, characterize and shape the way libraries serve as public spaces and are part of the social turn […]. These results indicate that libraries are no longer just media lending stations for readers but are opening up to the social realm of the public sphere. (p. 1122)

Der zusammenfassende erste Satz der „conclusion“ macht es deutlich:

The results show evidence of a unified professional culture with clear influences from national contexts. In-depth research is needed to explore the digital turn and the aspects most relevant in the respective national contexts, including the exact nature of the community needs and the specific competencies needed. (p. 1128)

Es gibt zwar ein allgemeines, länderübergreifendes bibliothekarisches Selbstverständnis, die Unterschiede im Detail zeigen aber gerade auch für die lokalen Kontexte, dass bei der Übernahme „neuer“ Rollen und Aufgaben, die bibliothekswissenschaftliche Forschung sich differenzierterer Methoden bedienen muss, um die jeweiligen infrastrukturellen Anforderungen besser zu verstehen und spezifische Konsequenzen ziehen zu können.

Referenz:

Johnston, Jamie; Pálsdóttir, Ágústa; Mierzecka, Anna; Audunson, Ragnar; Hobohm, Hans-Christoph; Tóth, Máté et al. (2022): Pubic Librarians’ Perception of Their Professional Role and the Library’s Role in Supporting the Public Sphere. A Multi-Country Comparison. In: Journal of Documentation 78 (5), 1109-1130. DOI: 10.1108/JD-09-2021-0178.