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Geschichte, der neue Trend?

In meiner Besprechung von Blair/Duguid et al.: Information. A Historical Companion. 2021 (in Information. Wissenschaft und Praxis) hatte ich es schon angedeutet: ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir eine historisch-geisteswissenschaftliche Wende der Informationswissenschaft erleben.

Dazu sind jetzt zwei weitere Besprechungen von mir erschienen:

Buckland, Michael K.: Ideology and Libraries California, Diplomacy, and Occupied Japan, 1945–1952 – With Masaya Takayama. Lanham Md.: Rowman & Littlefield, 2021. ISBN: 978-1-5381-4314-8, 112 S., 70 Euro (Taschenbuch: Juni 2022 (1538171201): 36,50 €; E-Book (9781538143155): 33,99 €)). In: Bibliothek. Forschung und Praxis. 46,3 (2022), 515-517.

Dieses Buch war die Anregung für mein Seminar am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin: „Geschichte und internationale Politik der Information – von der Seidenstraße der Antike bis zu den InfoWars des Cyberspace“. Und wie es so ist: man lernt am meisten durch eigene Lehre. Im Laufe der Vorbereitung bzw. sogar der Durchführung des Seminars im Sommer erschienen weitere einschlägige Publikationen, wie z.B. das oben erwähnte „Companion“ und eine Art Bibliotheksgeschichte des 20. Jahrhunderts von David Lankes, die wirklich wunderbar in das Seminar passte: Lankes, R. David (2021): Forged in war. How a century of war created today’s information society. Lanham: Rowman & Littlefield. David Lankes fasst hier wunderbar zusammen, was ich in vielen meiner Vorlesungen immer nur verdachtsweise geäussert hatte: der Krieg der Vater aller Dinge, vor allem der Informationstechnik. Dieses Buch habe ich aus Zeitgründen nicht rezensiert. Empfehle es aber dennoch der Lektüre. Meine Besprechung zu dem Buch von Buckland will ich hier nicht wiederholen: sie ist OA bei De Gruyter (Link s.o.).

Auch in meiner Funktion als Vorsitzender der Potsdamer Bibliotheksgesellschaft hatte ich die Ehre, die lokale Bibliotheksgeschichte zu lesen und für BuB zu besprechen:

Geschichte der »Volksbücherei und Lesehalle« Potsdam. Die Mühen einer städtischen Einrichtung. Besprechung von: Tygör, Lutz: Die Potsdamer städtische Volksbücherei: Von der Eröffnung 1899 bis zur Zerstörung der Stadtbücherei 1945. Leipzig: Engelsdorfer Verlag, 2022. 210 Seiten: Illustrationen. ISBN 978-3-696940-149-1 – Broschur: EUR 14,50. In: BuB. Forum Bibliothek und Information, 74,12 (2022).

Schließlich erschien unlängst noch ein „Reader“ als Begleitband des o.a. „Companion“:

Hayot, Eric; Detwyler, Anatoly; Pao, Lea (Hg.) (2022): Information. A reader. New York: Columbia University Press.

Eric Hayot und Lea Pao hatten vor kurzem eine Übersetzung des sehr anregenden kulturphilosophischen Buches von Peter Janich: „Information. Kritik einer Legende„. Frankfurt: Suhrkamp, 2006 vorgelegt:

Janich, Peter (2018): What is information? Minneapolis, London: University of Minnesota Press (Electronic mediations, 55).

was diese wohl dazu gebracht hat, den Reader zusammenzustellen, in dem neben einem Auszug aus dem Buch von Janich und Texten von Shannon, Bush und Wiener insbesondere auch Texte von Garfinkel, Foucault, Hayek (!), Lévi-Strauss, Heidegger, Benjamin, Eco, Ong, Freud, Flusser und Kittler als „Klassiker“ der Informationswissenschaft zu Wort kommen.

Und schließlich spült mir meine ResearchGate Citation Timeline eine neue Art Einführung in die „Informationswissenschaft“ auf den Tisch:

Pintar, Judith; Hopping, David (2023): Information science. The basics. Milton Park, Abingdon, Oxon, New York, NY: Routledge (The basics).

auch hier – mit wenig Bezug auf „unsere“ Grundlagenhandbücher wie Stock/Stock, Rubin/Rubin, Bawden/Robinson oder Floridi wird ein irritierend anderer Blick auf unsere Disziplin geworfen. Ich habe sie mir beide für weitere Besprechungen vorgenommen. Mal sehen, ob ich die Zeit dazu finde.

Die Informationsgesellschaft beruht auf einer fehlgeleiteten Konzeption von Sprache

Rezension von:

Schüller-Zwierlein, André: Die Fragilität des Zugangs. Eine Kritik der Informationsgesellschaft. Berlin: de Gruyter, 2022. (Age of Access? Grundfragen der Informationsgesellschaft; 14) – XIV + 436 S. – ISBN 978-3-11-073927-5 – 15,5 x 23 cm – 768 g – 109,95 Euro.

Parallel erschienen bei Open Password am 18. Mai 2022 #1072

Als letzten Band der fulminanten Reihe „Age of Access – Grundfragen der Informationsgesellschaft“ legt ein Herausgeber der Reihe, der Regensburger Bibliotheksdirektor André Schüller-Zwierlein, sein eigenes umfangreiches Statement vor. Es ist eine ziemlich fundamentale „Kritik der Informationsgesellschaft“ (so der Untertitel) geworden. Die Reihe hatte 2013 schon mit einem Paukenschlag (Schüller-Zwierlein/Zillien (Hg.): „Informationsgerechtigkeit“) begonnen und endet nun mit Band 14 mit einem Donnergrollen. Noch nicht alle Bände der Reihe sind erschienen: als letzter mit der Nummer 12: Rainer Kuhlens „Transformation der Informationsmärkte“ (2020). Leider ist in den Bänden der Reihe keine Gesamtübersicht abgedruckt und nicht alle sind „Open Access“, obwohl genau das häufig thematisiert wird.

Der hier zu empfehlende Band thematisiert genau das: die „Fragilität des Zugangs“, allerdings aus einer augurischen Höhenflugperspektive, so dass ihm die (angesichts des Preises) mangelnde ökonomische Zugänglichkeit nachgesehen werden kann. Es bleibt zu wünschen, dass möglichst viele Bibliotheken den physischen Zugang ermöglichen. Der intellektuelle Zugang zu diesem Buch ist eine Herausforderung, die der Autor implizit selber immer wieder betont. Nicht nur, dass für die Lektüre u.a. Französisch- und (Alt)Griechisch-Kenntnisse wünschenswert wären, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass die/der Leser:in sich einlassen muss auf eine tiefgründige Erörterung menschlichen Daseins, die im Dialog mit und sekundiert von einer Reihe der bedeutendsten Philosophen der Geistesgeschichte eine heftige Attacke gegen die Informationsgesellschaft fährt. Es bleibt nicht auf der Ebene des allgemeinen Diskurses von Kapitalismuskritik à la Castells oder Zuboff oder bei den inzwischen verhallten politischen Mahnungen des Jahres 2015 wie Floridis „Onlife Manifesto“ oder Helbings und Gigerenzers (u.a.) „Digital Manifest“. Continue reading

Information. A Historical Companion

Ebenfalls gerade erschienen: eine weitere Rezension von mir. Leider nicht OA.

Ann Blair (Harvard), Paul Duguid (Berkeley), Anja-Silvia Goeing (Harvard/Zürich) und Anthony Grafton (Princeton) haben ein wirklich voluminöses Werk in Form eines enzyklopädischen Lexikons mit einem ersten Teil mit chronologisch geordneten Langbeiträgen vorgelegt, das mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einem Standardnachschlagewerk werden wird. Die beteiligten Autoren und die Herausgeber kommen alle aus dem eher geschichtswissenschaftlichen Bereich und setzen eine Brille auf, die Informationswissenschaftlern sicher teilweise etwas fremd ist. Neben einigen bekannten Archivwissenschaftlern wie Eric Ketelaar trifft man nur mit Paul Duguid und Michael Buckland auf Namen, die in unserer Disziplin bekannt sind.

Ich halte aber diese etwas andere, interdisziplinäre Sicht auf Information für außerordentlich fruchtbar und empfehle das Buch in meiner Rezension. Es hat mich u.a. ja auch dazu angeregt, ein entsprechendes Vertiefungsseminar im Rahmen meiner Seniorprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin anzubieten.

Hobohm, Hans-Christoph. „Information. A Historical Companion: Blair, Ann; Duguid, Paul; Goeing, Anja-Silvia; Grafton, Anthony (Hrsg.). – Princeton and Oxford: Princeton University Press, 2021. xx+881 S.; 25,4×17,5 cm; 1800 g; ISBN 978-0-691-17954-4 (hardb), ISBN 978-0-691-20974-6 (ebook); USD 65,00″
In: Information – Wissenschaft & Praxis, vol. 73, no. 2-3, 2022, pp. 128-130. https://doi.org/10.1515/iwp-2021-2198

Seniorprof

Obwohl ich ja schon ziemlich lange am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft (IBI) im Fernstudium unterrichte, ist es doch ein neues Gefühl, seit heute dort im regulären Betrieb dabei zu sein. Ich weiß zwar noch nicht ganz genau, was eine „Seniorprofessur“ bedeutet (den Vertrag habe ich letzte Woche unterschrieben), aber die Vorfreude ist dennoch groß, endlich mal wieder „klassische“ universitäre Lehre machen zu dürfen. Mir hat Lehre immer recht viel Spaß gemacht, z.B. an der Uni Köln oder in Stuttgart. Ich hatte zwar auch schon früh Lehraufträge an der FH Köln, aber die 18 SWS dann später an der FHP waren dann doch etwas anderes.

Für das Sommersemester habe ich die Gelegenheit, ein Seminar im Vertiefungsbereich anbieten zu können. Ich habe dabei die Beobachtung aufgegriffen, dass in der Informationswissenschaft in letzter Zeit recht viele Publikationen mit historischen Bezügen erschienen sind, wie z.B. Michael Bucklands „Ideology and Libraries“ (2021) oder Ann Blairs und Paul Duguids (et al.) „Information. A Historical Companion“ (2021). [zu beiden sind auch Rezensionen von mir in der Pipeline]

Der Titel des Seminars lautet deshalb: Geschichte und internationale Politik der Information – von der Seidenstraße der Antike bis zu den InfoWars des Cyberspace

Die Idee war dann auch, ein solches Seminarangebot für Studierende mit entsprechenden Zweitfächern zu konzipieren, damit hier Interdisziplinarität gelebt werden kann. Das betrifft natürlich Historiker und Politologen oder Kulturwissenschaftler, aber auch Romanisten (Französisch-Studierende), weil wir natürlich auch Paul Otlet und Henri Lafontaine besprechen müssen, die ja beide leider ziemlich aktuell geworden sind aufgrund ihrer Rolle als Friedensbotschafter nach dem Ersten Weltkrieg.

Die Erläuterung zum Seminar sind auf dieser Seite ausführlicher.

Was die Rolle als Seniorprof sonst noch bedeutet: ich lasse mich überraschen.

Fachgeschichte – Richtungsstreit und Öffnung der Bibliotheken in den letzten 100 Jahren

Auf der Podiumsdiskussion letzte Woche und in einem meiner Seminare wurde der sog. Richtungsstreit und die „Bücherhallenbewegung“ des deutschen Bibliothekswesens angesprochen. Nur um uns alle auf den Informationsgleichstand zu bringen, möchte ich hier aus dem Lexikon der Bibliotheks- und Informationswissenschaft (Stuttgart 2014, S. 779f) zitieren und desweiteren auf den Beitrag von Ragnar Audunson hinweisen, von dem ich dieses sicher nicht unproblematische Argument habe, dass wir ein auch historisches Fachverständnis (eine “ ‘professional civic self-cultivation’ (Bildung)“ (sic), wie er schreibt) brauchen.

Ragnar Andreas Audunson (Oslo): Do We Need a New Approach to Library and Information Science? In: BIBLIOTHEK 42 (2018) Nr. 2, S. 357–362.

Ich bitte diesen Blogpost nicht misszuverstehen.