Die Informationsgesellschaft beruht auf einer fehlgeleiteten Konzeption von Sprache

Rezension von:

Schüller-Zwierlein, André: Die Fragilität des Zugangs. Eine Kritik der Informationsgesellschaft. Berlin: de Gruyter, 2022. (Age of Access? Grundfragen der Informationsgesellschaft; 14) – XIV + 436 S. – ISBN 978-3-11-073927-5 – 15,5 x 23 cm – 768 g – 109,95 Euro.

Parallel erschienen bei Open Password am 18. Mai 2022 #1072

Als letzten Band der fulminanten Reihe „Age of Access – Grundfragen der Informationsgesellschaft“ legt ein Herausgeber der Reihe, der Regensburger Bibliotheksdirektor André Schüller-Zwierlein, sein eigenes umfangreiches Statement vor. Es ist eine ziemlich fundamentale „Kritik der Informationsgesellschaft“ (so der Untertitel) geworden. Die Reihe hatte 2013 schon mit einem Paukenschlag (Schüller-Zwierlein/Zillien (Hg.): „Informationsgerechtigkeit“) begonnen und endet nun mit Band 14 mit einem Donnergrollen. Noch nicht alle Bände der Reihe sind erschienen: als letzter mit der Nummer 12: Rainer Kuhlens „Transformation der Informationsmärkte“ (2020). Leider ist in den Bänden der Reihe keine Gesamtübersicht abgedruckt und nicht alle sind „Open Access“, obwohl genau das häufig thematisiert wird.

Der hier zu empfehlende Band thematisiert genau das: die „Fragilität des Zugangs“, allerdings aus einer augurischen Höhenflugperspektive, so dass ihm die (angesichts des Preises) mangelnde ökonomische Zugänglichkeit nachgesehen werden kann. Es bleibt zu wünschen, dass möglichst viele Bibliotheken den physischen Zugang ermöglichen. Der intellektuelle Zugang zu diesem Buch ist eine Herausforderung, die der Autor implizit selber immer wieder betont. Nicht nur, dass für die Lektüre u.a. Französisch- und (Alt)Griechisch-Kenntnisse wünschenswert wären, sondern vor allem aufgrund der Tatsache, dass die/der Leser:in sich einlassen muss auf eine tiefgründige Erörterung menschlichen Daseins, die im Dialog mit und sekundiert von einer Reihe der bedeutendsten Philosophen der Geistesgeschichte eine heftige Attacke gegen die Informationsgesellschaft fährt. Es bleibt nicht auf der Ebene des allgemeinen Diskurses von Kapitalismuskritik à la Castells oder Zuboff oder bei den inzwischen verhallten politischen Mahnungen des Jahres 2015 wie Floridis „Onlife Manifesto“ oder Helbings und Gigerenzers (u.a.) „Digital Manifest“.

Die Kritik holt aus bis zu den Dialogen Platons, bei denen vor allem die Schriftkritik durch Sokrates einer neuen, differenzierteren Lektüre unterzogen wird. Der Topos erscheint hier in einem völlig anderen Licht, als es bei dem häufig anzutreffenden „Name-Dropping“ in vielen postmodernen Diskussionen der Fall war. Mit einer kontextualisierenden, hermeneutischen Textkritik nicht nur (wie üblich) weniger Zitatstellen, sondern aus der gesamten Konstruktion der Dialoge heraus, vertieft Schüller-Zwierlein die komplexeren Beweggründe von Sokrates’ Skepsis gegenüber der Schrift. Interessanterweise rehabilitiert er damit Platon gegenüber Popper, der diesem ja im Grunde vorgeworfen hatte, Schuld am Totalitarismus des 20. Jahrhunderts zu sein[1].

Er arbeitet heraus, dass für Sokrates Sprache und damit der Mensch stets einer Hilfestellung (boētheia) bedarf, um verstanden zu werden. Damit dies aber möglich ist, kann Verständigung und Zugang zu Sprache/Text und Menschen nur im Freiraum der Muße (scholē) ohne jeglichen Zeitdruck geschehen. Die „Muße“ ist jedoch nicht lediglich Abwesenheit von Beschäftigung (ascholia), wie wir sie heutzutage verstehen, sondern vor allem Konzentration und Zugewandtheit. Die Hilfestellung, die Menschen und Texte benötigen, um verstanden zu werden, ist somit eine gegenseitige. Und dies betrifft die mündliche wie die schriftliche Kommunikation, die synchrone Oralität und die diachrone Schriftlichkeit. Die „Fragilität des Zugangs“ im Titel des Buches meint also die gemeinsame Arbeit am Text des eigenen Selbst-Verständnisses und des Verstehens des Anderen und das auch über Jahrhunderte hinweg, wie Schüller-Zwierlein wunderbar demonstrieren kann bei seiner Exegese der Platonischen Dialoge. Eine weitere Grundbedingung der Zugänglichkeit ist der „Respekt vor Komplexität“. Alle scheinbar einfachen Erklärungen von Sokrates z.B. zur Frage der Erkennbarkeit von Wahrheit, lösen sich im Laufe der Dialoge auf. Und als Sokrates schließlich zum Gericht eilen muss, um sein Todesurteil zu empfangen, kommt es ganz „sokratisch“ immer noch zu keiner definitiven Antwort der zuvor diskutierten Grundfragen der in den „Dialogen“ diskutierenden Philosophen. Der Mensch hätte zwar gerne einfache Antworten, aber selbst mit gegenseitiger Hilfe und Muße bleiben diese aus: die Welt ist zu komplex und Wissen muss ständig aktualisiert werden, um nicht verloren zu gehen. 

Hinzu kommt, und das wird im Symposion des Platon eindrücklich inszeniert, die Scham und die „Furcht vor dem Abgrund des eigenen Nichtwissens. Es ist letztlich aischynē, die Scham vor geistigen Haltungen, die Scham, vom Anderen (bzw. der Anderen) korrigiert zu werden, die den Dialog verhindert. [… Sie ist] die wichtigste Ursache für die Fragilität des Zugangs. Am Grunde der Gewalt liegt also die Scham“ (S.368). Und auch hier kommt man nur mit gegenseitiger Hilfe und mäeutischem Wohlwollen des Anderen zu einem friedlicheren Selbstverständnis. Es kommt darauf an, den/die anderen Gedanken, Texte, Menschen wie einen Gast zu empfangen, sich diesen ganz zu widmen und Komplexität und Anderssein auszuhalten. Als ob also Platon vor 2500 Jahren das heutige Zeitalter der Explosion der Kommunikation mit Hatespeech und Desinformation vorausgesehen hätte. Schüller-Zwierlein bringt es auf den Punkt: „Die Informationsgesellschaft beruht auf einer fehlgeleiteten Konzeption von Sprache“ (S. 366), von Kommunikation und der Idee der Wahrheitsfindung und Erkenntnis. 

Auf Basis dieser Platonischen Grundlegung seiner Kritik der Informationsgesellschaft im ersten Teil des Buches (bis S. 61) lässt Schüller-Zwierlein weitere Leser:innen Platons zur Wort kommen und mit anderen in Dialog treten. So kann man einem postumen Dialog zwischen Hans-Georg Gadamer (dem Philosophen des Verstehens) und dem Dekonstruktivisten Jacques Derrida beiwohnen oder eine (stattgefundene) Debatte zwischen Alan Turing und Ludwig Wittgenstein (als „Ur-Ereignis der Informationsgesellschaft“) nachvollziehen. Allen voran sind aber Hannah Arendt, Emmanuel Levinas, Jean-François Lyotard und einige andere Zeugen dafür, dass physische Gewalt im Denken und in der Sprache entsteht. Der Drang nach Vereinfachung und Vereindeutigung im Denken, wie sie der Automatisierung zugrunde liegt, führt letztlich zu Gewalt. Die einzelnen äusserst lesenswerten und erhellenden Gedanken aus diesem zweiten Teil des Buches (bis S. 270) wiederzugeben, würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen. Nur so viel: sie regen bestimmt zu einer erneuten Lektüre der dort auftretenden Denker an, wie z.B. von Lyotard, von dessen „Widerstreit“ (1983, dt. 1987) Gert Scobel unlängst sagte, es sei das wichtigste philosophische Buch der letzten 50 Jahre. 

Im dritten Teil werden zunächst die „Schattenseiten der Informationsgesellschaft“ diskutiert, wie die Verdatung der Gesellschaft, die Logik der Beschleunigung, der Rückzug der Privatheit, der (mangelnde) Respekt vor der Komplexität von Medien, Menschen und Geschichte sowie die kritische Funktion des Speichergedächtnisses. Der Diskurs bleibt auf einem recht hohen Niveau und zeigt immer wieder die ethischen Konsequenzen der aktuellen Entwicklungen auf. Als Quintessenz werden vor dem Hintergrund allgemeiner Probleme wie Verdinglichung, Effizienzorientierung (=Zeit + Beschleunigung), Vereinfachung, Vernachlässigung und Missverständnis von Sprache die fünf „Kritiken der Informationsgesellschaft“ benannt, die sich immer wieder auf die drei platonischen Konzepte beziehen lassen: 

  • Kritik des sofortigen Verstehens
  • Kritik der organisatorischen Grammatik (Einteilen, Zählen, Holen und Bringen)
  • Kritik der Transparenz (die nicht „Wahrheit“ ist)
  • Kritik des einseitigen Lesens
  • Kritik der Reduktion der Komplexität.

In einem abschließenden Kapitel werden Lösungsangebote diskutiert, die „geistige Resilienz“ bieten könnten. Wen wunderts, wenn der Bibliothekar und Geisteswissenschaftler hier eine (scharfe) Lanze bricht für Bibliotheken und Geisteswissenschaften. Erste bieten in einem besonderen Sinn in der Informationsgesellschaft den Schutzraum, der für den Zugang zu anderen (Texten und Menschen) und zu sich selbst verloren gegangen ist. Und letztere liefern naturgemäß auch dazu den Reflexionsraum der sprachlichen und historischen Komplexitätswahrnehmung und sollten Garant sein gegen die kritischen Auswüchse der Informationsgesellschaft. 

Mahnungen ähnlicher Art: „achtet die Bibliotheken und fördert die Geisteswissenschaften!“ gab es schon häufig, aber m.E. noch nie in einer so fundamentalen Herleitung aus unserer Kultur- und Geistesgeschichte. Es wird jenseits aller kurzfristigen Parolen oder Ideologeme (wie „Dritter Ort“ oder „Kulturelles Erbe“) deutlich und scheinbar unhintergehbar, dass es (mindestens) zwei zur Zeit unterschätzte „Institutionen“ gibt, die selber Hilfestellung (boētheia) bieten in dieser zunehmend komplexen und bedrohten Welt. Die wichtigsten Denker unserer Zeit werden hier vereint, um ihre Hilfe anzubieten und einzuladen, sich ihnen mit Muße (scholē) zu widmen. Und das braucht das Buch allerdings auch. Aber es ist eine Einladung, sich diesem immer wieder erneut mit Konzentration zu widmen. Bleibt zu hoffen, dass der/die eine oder andere in unserer eiligen Welt die Zeit dazu findet. Zu wünschen wäre es.

[1] Schölderle, Thomas (2010): Poppers Totalitarismusvorwurf gegenüber Platon und die (Un-)Redlichkeit wissenschaftlicher Auseinandersetzung. In: Zeitschrift für Politische Theorie 1 (2), S. 173–193.