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Warum sind Information Professionals so „internetavers“?

Oder technophob, arachnophob, digiphob… jedenfalls nicht internetaffin? Am häufigsten erlebe ich AIBS gerade bei Personen, die sich als Information Professionals verstehen oder gar als Informationswissenschaftler. Letztlich wurde mir sogar als Begründung für die Netzverweigerung gesagt: „weil ich information professional bin.“ Es handelt sich auch nicht nur um die Ablehnung eines bestimmten Konzerns wie Facebook, Google oder Microsoft, sondern meist um eine generelle Abstinenz. Interessanterweise erlebe ich auch gerade bei diesen Personen eine Art Microsoft Hörigkeit. Und das Argument, dass gerade Mikrosoft Daten auf dem heimischen PC sammelt kommt hier nicht an….

Für mich ist das eine echte Frage, Und ich meine nicht die Diskussion um mangelndes Open Access der Informationsszene in Deutschland, das ist ja nur die Basis dafür. Ebenso finde ich interessant, dass ich in diesem Bereich den Eindruck habe, die meisten Pseudonyme im Netz (z.B. bei Twitter) zu sehen, mit denen dann doch ein vermeintlicher Deckmantel für wenig personenauthentische Diskurse verspürt wird. Meine Erfahrung widerspricht hier Sascha Lobo, der auf der re:publica sagte, dass es Studien gäbe, die belegten, dass Anonymität im netz nicht zu Missbrauch führt…

Gut, es müssen ja nicht alle Digital Natives sein, aber als Informationsspezialist müsste man doch zumindest „heavy user“ und „visitor“ sein, wie Peter Kruse es anschaulich untersucht hat:

Ich bin dankbar für jeden Hinweis, der über Duecks Hysterie/Zwanghaftigkeit-Schema hinausgeht.

A propos Dueck: besonderer Hinweis auf diesen Film: Minute ab 20 in diesem Film, wo er sagt: „Ich war neulich auf dem 100. Bibliothekartag, oh das war ernst.“

Byung Chul Han zu: Politik

Byun Chul Han, dessen Müdigkeitsgesellschaft schon viel Aufmerksamkeit brachte, hat unlängst im Berliner Tagesspiegel, in der Rubrik die andere Meinung in der Tat eine andere Meinung vertreten. Sein Aufsatz zur Diskussionskultur im Internet: „Im Reich der namelosen Nackten“ ist an sich schon eine anregende Lektüre. Interessant aber vor allem sein Schlusssatz:

Politik ist aber mehr als Option und Partizipation. Politik ist ein Zusammenhandeln, dessen Zeithorizont die Zukunft ist. In vieler Hinsicht befinden wir uns an einer epochalen Schwelle, an der sich ernsthaft die Frage stellt, ob die Politik überhaupt noch möglich ist.

Ich denke ein tiefgreifendes Statement. Auf der re:publica (#rp12) schien man da völlig anderer Meinung zu sein: alles wird besser durch Open Government war dort die Parole.

Das als Beitrag zu der Diskussion im Seminar „Das Ende der Bibliothek“. Zu Han gab es auch gerade eine Diskussion im LIBREAS Blog von ben Kaden.

Der Hinweis auf den Tagespiegelartikel stammt von meinem Browsen im neuen LinkedIn App fürs iPad, mit dem ich mal wieder auf den stets lesenswerten „Hapkes Blog“ gestoßen bin. Danke! Ich habe mir dann jetzt doch auch die Transparenzgesellschaft gekauft, obwohl ich das dort vermutete AIBS (acquired internet bashing syndrome) ziemlich leid bin.

Reuß: das Buch fördert kritische Reflektion zu Tage

Prof. Dr. Roland Reuß am 11.1.12 in Potsdam

Roland Reuß in der Druckerei Rüss in Potsdam

Der mit Spannung erwartete Vortragsabend mit Roland Reuß in der Reihe „Das Buch im Digitalen Zeitalter“ hat alle Erwartungen erfüllt. Der streitbare Literatur-wissenschaftler und Medienkritiker lieferte frei und ohne Powerpoint Untermalung ein Feuerwerk seiner Argumente für einen qualitätsbezogenen Wissenschafts- und Medienumgang. Sein Vortrag war nicht nur eindimensional auf den angekündigten Titel „Das Buch als Individuum“ ausgerichtet. Man hätte hier reichlich Reflektionen zu Buchgeschichte, Philologie oder Typographie erwarten können. Vielmehr belegte Reuß viele seiner auch aus der breiteren Presse bekannten Thesen mit sehr persönlichen, anschaulichen Beispielen, so dass es auch kritischen Zuhörern schwer fiel zu kontern. Der Vortrag bewies somit eine seiner zentralen Thesen durch sich selbst: das Buch in seiner (haptischen und analogen) Materialisierung fördert kritische Reflektion zu Tage, und zwar im Zusammenhang mit seiner Produktion und seiner Rezeption. Beim Verfassen eines Buches gibt es den Zeitpunkt ab dem die Publikation „gilt“ und nicht mehr aus der Welt geschafft werden kann und die Rezeption eines Buches (bzw. hier: eines Vortrags) erfordert, oder zumindest: ermöglicht, die konzentrierte Hinwendung auf die Gedanken des anderen. Die Materialisierung des Gedankens in der analogen Welt – und sei es die der persönlchen Begegnung mit dem Autor – hat andere Qualitäten als das Digitale und Vernetzte. Mit dem Digitalen, so Reuß, ist es wie mit anderen Drogen: irgendwann ist man es leid. Oder wie mit Masern: die gehen vorbei. Die Geschwindigkeit des Produzierens und Konsumierens in der aktuellen Digitalen Gesellschaft behindert zumindest die Konzentrationsfähigkeit und reduziert damit die kritische Urteilskraft.

Begrüßung durch den Hausherrn, Christian Rüss

In diesem Zusammenhang beklagte er auch eine Immunisierung gegenüber Kritik bei der Reflektion über das Neue, die mit eben jenem Verlust von Urteilskraft einhergehe. Er sieht deshalb seine Interventionen als eminent politisch und bezogen auf die uralte Kernfrage: „wie erhöht man den Bildungsstand einer Gesellschaft?“. Er las hierzu aus dem Buch von John Ruskin „Sesam und Lilien“, der 1864 schon forderte, für die Slums in Manchester „Schatzkammern des Königs“ (=Bibliotheken) zu errichten um den Bildungsstand zum Wohle der Volkswirtschaft zu heben.  Reuß betonte immer wieder, dass er sich nicht als konservativ verstehe. Er verweist dabei auf seine intensive und langjährige Zusammenarbeit mit dem Stroemfeld Verlag / Roter Stern, beklagt aber: „Linke können nicht um die Ecke denken“ und verstehen nicht die Vorgehensweisen und Positionen der Großkonzerne gerade im Medienbereich. Seine Kritik am Internet fasst er provokativ zusammen: es ist für Leute, die Materialität haben wollen, aber nicht kriegen können, er nennt es deshalb pornographisch – die quantitaitiv große Verbreitung von Pornographie im Internet als Beleg dafür nennend. Zusätzlich verleitet die neue Technologie mit seiner unendlichen Perfektibilität dazu, nie einen Abschluss zu finden. Das Analoge, als Verkörperungdes Gedankens zwingt zu einer verantwortlichen Repräsentation dessen, „was gilt“. Es zwingt zu Autorschaft durch seine Stabilität und Referenzierbarkeit. „Zitieren Sie mal aus einem eBook!“ Der Open Access Gedanke der freien Zugänglichkeit von Publikationen im Netz sei nicht neu („ein Märchen“): dies haben Bibliotheken immer schon geboten. Warum nun zur „weltweiten Befreiungsbewegung“ die Verfügbarmachung von schlecht digitalisierten Handschriften ohne kritischen Editionsapparat, der das Verständnis alter Kulturproduktionen überhaupt erst ermöglicht, gehöre, sei nicht nachvollziehbar. „Was soll der Onlinezugriff auf eine unleserliche Handschrift von Hölderlin in Ghana?“

Karen Falke (Leiterin des Informationszentrums Informationswissenschaft und der Hochschulbibliothek) führt in den Vortragsabend ein

Es ist eben einfacher, schnelle Quantität zu produzieren als bildungsrelevante mühevolle Qualität. Dies diene eher im Grunde den Großkonzernen des Verlagswesens bzw. der Politik (in Gestalt der DFG). Er bezeichnet die Open Access Bewegung deshalb als den Versuch der „Abkoppelung der schreibenden Intelligenz vom Verlagssystem“. Die staatliche subventionierte Publikationsmaschine in Form von Repositories, Publikationszuschüssen und der Verpflichtung von Autoren für die Publikation zu zahlen, sieht er im Gegensatz zur Verwertung durch die Nachfrage der Leser und der darauf bezogenen privaten Investition eines Verlegers in die Kreativität von Autoren als tendenziell forschungsfeindlich und totalitär. Wissenschaft sei in erster Linie intrinsisch motiviert und ließe sich nicht über Publikationsquoten und Repository-Eintragspflichten der Universität steuern. Als typischer Geisteswissenschaftler verortet er die meiste wissenschaftliche Erkenntnisproduktion in der Freizeit des Wissenschaftlers – der ja sowieso schon eine Arbeitszeit von 80 Wochenstunden habe. Hier staatlich zu regeln und auf die kreativitätsfördernde Atmosphäre der verlegerischen Betreung und Förderung verzichten zu wollen, sei außerordentlich gefährlich. Jeder Prof könne seine Amtspflichten allein mit Lehr- und Verwaltungsaufgaben auf die ’normalen‘ 40 Wochenstunden reduzieren.

Aufmerksame Zuhörer

Zur weiteren Erklärung der aktuellen Situation stellte Reuß die Rede von der Gutenberg Galaxis in Frage: der eigentliche Wandel in den Medien sei nicht durch Gutenbergs typographische Mechanisierung der Schrift erfolgt, sondern durch den Wechsel von der Papyrusrolle zum Kodex, der den besseren Zugriff auf das Wissen bzw. vor allem die Stablisierung seiner Referenzierbarkeit ermöglichte. Die aktuelle Entwicklung sei deshalb eine „Rolle rückwärts“ (mit Verweis auf den EDV-Begriff des ‚volume‚ für Festplatte). „Wie enthemmt baden die Leute in Vagheit“ in Zeiten des Digitalen und der Vernetzung. Auch das Gerät, mit dem heutzutage gearbeitet werde, der vernetzte Computer, sei eine unglückliche Verschmelzung von Schreib-, Vergnügungs- und Einkaufsmaschine und fördere damit nicht die inhaltliche Konzentration auf den Gedanken. Bücher brauchen Zeit und Aufmerksamkeit: das ‚Ping‘ der ständig eintreffenden oder gerade nicht eintreffenden E-Mail lenke nur ab. Jede Hypertextseite verführe zum Öffnen der Links wie ein Adventskalender, der mit seinen Türchen neugierug macht, und damit zum Verlust des roten Fadens des Gedankens. Reuß ging dabei nicht soweit wie andere Internetkritiker, die behaupten, das menschliche Denken, ja das Gehirn würde sich deshalb zurückentwickeln, sondern blieb bei der Beschreibung dieser alltäglichen Erfahrung, die jeder macht.

Materialisierte Bücher als Anschaungsmaterial

Gegen Ende des Vortrag gab es noch einige explizite Kritiken an der aktuellen, oft unstrukturierten und wenig qualitativen Digitalisierungspraxis im deutschen Bibliothekswesen. Er bezog sich dabei auch auf den publizierten Vortrag von Frau Schneider-Kempf in der gleichen Vortragsreihe und löste damit eine Reihe von Fragen und Kritiken der anwesenden Bibliothekare und anderer Fachkollegen aus. In der Diskussion wurden dann die unterschiedlichen Positionen von produktionsorientierter Wissenschaft und eher rezeptionsorientierter Informationsinfrastruktur deutlich. Reuß wurde vorgehalten, dass er die neuen Möglichkeiten des Suchens und schnellen Zugriffs auf Informationen und Medien sowie die neuen Möglichkeiten des Digitalen Arbeitens unterschätze. Dem konnte er entgegenhalten, dass er in seinen kritischen Editionen und anderen Publikationen schon sehr früh digital gearbeitet („Kennen Sie noch Ventura Publisher?“) und stets, wenn möglich, hybrid (mit CD) publiziert hat. Er warb dann erneut für die Position des kreativen Wissenschaftlers und einen qualitätshaltigeren Bildungsbegriff, der mehr Langsamkeit und materialisierte Verantwortung auf allen Seiten brauche. Sein zentrales Beispiel war dabei das Argument, dass es wohl aufgrund der beschleunigten Entwicklung der Gesellschaft und der Volkswirtschaft seit mindestens 20 Jahren keine umfassende Theorie der Wirtschaft mehr gäbe, die die aktuelle Wirtschaftslage erklären könne. Mir persönlich wurde auch in der Vorbereitung u.a. klar, dass wir noch viel genauer auf die Entwcklungen des Medienwandels schauen und auch auf die Positionen der jeweiligen Diskutanten dazu hören müssen. So ist Roland Reuß mit Sicherheit nur zu verstehen, wenn man seine (auch sehr persönlich vorgetragenen) Erfahrungen als Herausgeber großer kritischer Editionen, zuletzt die Brandenburg-Ausgabe der Werke von Kleist, nachvollziehen kann. Ich selbst war eine Zeit lang intensiv beteiligt an der ersten großen Ausgabe der Werke von Montesquieu und fühlte mich in die Zeiten meiner wissenschaftlichen Anfänge als Philologe versetzt. Reuß selbst schreibt aber auch, wie wichtig für den Philologen, dem Freund der Rede [und der Vernunft], die Arbeit mit dem Originalmaterial in den Archiven ist (vgl. dazu seine überaus lesenswerten Notizen zum Grundriss der Textkritik). Hier schließt sich ein wichtiger Kreis zu den Informationswissenschaften als Basis für wissenschaftliche Arbeit: in den Informationsinfrastrukturen (wie dem Archiv) aber eben auch mit einem ‚kritischen‘ Ansatz ähnlich seiner Textkritik (hier dann information criticism oder Informationsbewertung). Ich kann aber auch gut verstehen, dass Naturwissenschaftler bisher die Positionen von Reuß nicht nachvollziehen können…. es sei denn, der Bibliothekswissenschaft gelingt es, die analoge Funktion von Datensätzen als „Dokument“ für diese Seite der zwei Wissenschafts-Welten darzulegen. Wir arbeiten daran (vgl. das jüngst erschienene Handbuch Forschungsdatenmanagement).

Diskussion bei Rotwein

Es war in der Tat ein anregender, und sicher für die Informations-wissenschaften in Potsdam wichtiger Abend. Beim abschließenden Gespräch in kleinen Runden herrschten die Kommentare vor, dass mittlerweile die Vortragsreihe ein repräsentatives und spannendes Bild auf den Wandel im Digitalen Zeitalter biete. Der Wunsch nach einer Fortsetzung – z.B. als Podiumsdiskussion aller Referenten – wurde schon jetzt laut. Den informationswissenschaftlichen Aufhänger der Vortragsreihe „Das Buch als Riff in den Netzwerkströmen?“ aufgreifend gab es schließlich sogar eine korrekte und anschauliche Darstellung in der heutigen Presse (Potsdamer Neueste Nachrichten, 13.1.2012, S. 20) mit dem Titel und Fazit:

Das Buch wird bleiben! Doch nicht als Riff, sondern als Leuchtturm!