Menschen sind Informavores = Grundhypothese der Informationswissenschaften

Der fünfte Vortrag im Potsdamer Informationswissenschaftlichen Kolloquium führte uns nach Deutschland zurück. Prof. Dr. Klaus Lepsky berichtete aus Köln von dem Projekt des Buches zur Informationellen Kompetenz, das er zusammen mit Prof. Dr. Winfried Gödert im letzten Jahr publiziert hatte. Ich hatte als „Provokation“ dem Vortrag den Titel gegeben „Informationelle Kompetenz vs. Informationskompetenz“. Gleich zu Beginn der von ca. 50 Teilnehmern aus ganz Deutschland besuchten Veranstaltung betonte Klaus Lepsky, dass er diese Provokation gar nicht aufnehmen und vor allem kaum über Informationskompetenz sprechen werde. „Sie klingen ähnlich, sind aber nicht gleich.“

Als Ausgangspunkt für die Informationswissenschaften sieht er mit seinem Kollegen Winfried Gödert zusammen die Frage des Wissenserwerbs durch Menschen, die immer noch nicht befriedigend beantwortet sei. Gleichzeitig sei ein zunehmender Glaube an die Medialisierung von Wissen zu beobachten, der mittlerweile sogar mit einem „apodiktischen“ Ton vertreten wird [1]. Die „Grundhypothese“ für die Informationswissenschaften sollte sein, dass Menschen informationsverarbeitende Wesen sind. Somit könne sich die Informationswissenschaft von den prozessorientierten Ansätzen der Informatik abgrenzen. Die Frage also, wie es zu Wissensaneignung durch Menschen kommt, solle mit philosophischen, grundlegenden Ansätzen neu diskutiert werden [2]. Im Grunde handelt es sich hiermit um einen kognitionswissenschaftlichen, ja erkenntnistheoretischen Ansatz, aber auch diese Wissenschaften können das Grundproblem unseres Berufsfeldes im Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine noch nicht befriedigend beschreiben.

Die beiden Autoren folgen den weit verbreiteten konstruktivistischen Vorstellungen, dass der Mensch, sich sein Wissen über die Realität aktiv konstruiert. Ziemlich ähnlich wie Fred Dretske [3] und Bertram Brookes [4], aber ohne sich auf diese zu beziehen, gehen Lepsky und Gödert davon aus, dass Wissen in die vorhandene Wissensstruktur im Gehirn des Menschen eingebaut werden muss, und dass dieses wiederum externalisiertes Wissen über Realität bzw. „institutionelle Realität“ selbst erzeugen kann. Bleiben jedoch Dretske und Brookes sehr stark auf der semantischen Ebene, so ist das Interessante an diesem Ansatz, dass sie die kommunikationswissenschaftliche Pragmatik John Searles mit Karl Poppers Welt 3 Modell verbinden. Lepsky betonte allerdings, dass er zu dieser Idee lieber Popper und Searle nicht befragen würde. Es erscheint zunächst plausibel, das Konzept der Intentionalität der Sprechakttheorie mit Welt 2 und Welt 3 zu verbinden als „individuelle Intentionalität“ (die wie in der Foraging Theory beschrieben, die Weltwahrnehmung steuert) sowie als „kollektive Intentionalität“ (die man als Quintessenz des Social Epistemology von Jesse und Sera sehen könnte) [5].

Die Grundprinzipien „kognitiver Operatoren“, die notwendig sind die Welt 1 zu erkennen und zu verstehen sind sehr ähnlich denen, die in der praktischen Informationsverarbeitung auch angewandt werden wie Abstrahieren, Instantiieren, Bewerten etc. [6]. Hinzu kommen Aspekte spezifisch humanen Verhaltens wie Kreativität, Intuition, Selbstachtung. Zusammen bilden diese grundlegenden Operatoren der Kognition die Basis für informationelle Autonomie, die sich wiederum in informationeller Kompetenz ausdrückt. Fehlt die Autonomie als Basis für Evidenz- (=Informations-) geleitetes Handeln, kann dies gravierende Konsequenzen für die Gesellschaft haben. Hier folgt der Ansatz einer Diskussion von Hegels Herr/Knecht Metapher und von Webers Autoritätskonzept, ohne dass dies in dem Vortrag thematisiert werden konnte, weshalb dieser Argumentationsschritt hier etwas verkürzt wirkt.

Abschließend gab Lepsky dann doch dem vorgegebenen Vortragstitel nach und stellte die klassische (bibliothekarische) Informationskompetenz der informationellen Kompetenz gegenüber. Und wie erwartet, entzündete sich nach dem Vortrag auch genau hieran die Diskussion mit der Frage, ob denn diese so wichtige Kernkompetenz gelehrt werden kann. Man einigte sich schließlich darauf, dass beide, informationelle und Informationskompetenz eher nur „gefördert“ werden können. Aber auch die (im Vortrag nicht erwähnte) Brookes’sche Gleichung der Wissensstruktuierung im Gehirn wurde aus verschiedenen Perspektiven angeregt diskutiert: gibt es hier Beziehungen zum Semantic Web oder zu neuronalen Netzen? Eine der Kernfragen, wie sich die Autoren zum Stand der informationswissenschaftlichen Forschung z.B. zum Konzept des Wissensmanagements (nach Probst et al.) positionieren, bzw. warum sie dieses kritisieren, konnte leider von Klaus Lepsky nicht beantwortet werden.

Es war eine interessante und anregende Diskussion, der man sicher mehr Zeit gewünscht hätte. Am Ende eines langen Zoom-Tages für alle wollte ich aber doch pünktlich die Sitzung beenden. M.E. zeigte sie vor allem, dass es notwendig wäre, den Stand der informationswissenschaftlichen Forschung und Konzeptionierung in Deutschland weiter zu verbreiten. Von den internationalen Referenten (und Teilnehmern) der letzten Vorträge waren leider – wohl wegen der Sprachbarriere –  nur noch ganz wenige dabei.

Referenzen

[1] was im Grunde ja schon am Anfang des Kolloquiums intensiv diskutiert wurde, vgl. Henningsen, Erik; Larsen, Håkon (2020): The Digitalization Imperative. Sacralization of Techology in LAM Policies. In: Ragnar Audunson, Herbjørn Andresen, Cicilie Fagerlid, Erik Henningsen, Hans-Christoph Hobohm, Henrik Jochumsen et al. (Hg.): Libraries, archives and museums as democratic spaces in a digital age. Berlin: De Gruyter Saur, 53–71.

[2] Leider fehlte die Zeit im Kolloquium nachzufragen, wie die Autoren denn zu den anderen großen Projekt der Philosophy of Information und der traditionellen Social Epistemology als Grundlegung der Bibliotheks- und Dokumentationswissenschaft stehen, vgl. die Diskussion beim letzten Kolloquiumsvortrag.

[3] Dretske, Fred I. (2003 [1981]): Knowledge and the flow of information. Stanford, Calif: CSLI Publications (David Hume series).

[4] Brookes, Bertram C. (1980): The foundations of information science. Part III. Quantitative aspects: objective maps and subjective landscapes. In: Journal of Information Science 2 (6), S. 269–275. DOI: 10.1177/016555158000200602; Todd, Ross J. (1999): Back to our beginnings: information utilization, Bertram Brookes and the fundamental equation of information science. In: Information processing & management 35 (6), S. 851-870. DOI: 10.1016/S0306-4573(99)00030-8; Bawden, David (2011): Brookes equation. The basis for a qualitative characterisation of information behaviours. In: Journal of Information Science 37 (1), S. 101–108. DOI: 10.1177/0165551510395351.

[5] das ist ja auch schon die Interpretation des Welt III Modells bei: Ingwersen, Peter; Järvelin, Kalervo (2005): The turn: integration of information seeking and retrieval in context. Dordrecht u.a.: Springer, S.49.

[6] persönlich finde ich interessant, wie sehr dieses Konzept informationeller Kompetenz sich unserem empirisch gestützten der „Kognitiven Kompetenz“ als Kernkompetenz der Informationsberufe annähert: Hobohm, Hans-Christoph; Pfeffing, Judith; Imhof, Andres; Groeneveld, Imke (2015): Reflexion als Metakompetenz. Ein Konzeptbegriff zur Veranschaulichung akademischer Kompetenzen beim Übergang von beruflicher zu hochschulischer Qualifikation in den Informationsberufen. In: Walburga Freitag, Regina Buhr, Eva-Maria Danzeglocke, Stefanie Schröder und Daniel Völk (Hg.): Übergänge gestalten. Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung erhöhen. Münster: Waxmann, S. 173-191.