Was ist eigentlich „das Digitale“?

Tränengas bei der Erstürmung des Capitols (6.1.2021) – Photo: Tyler Merbler, CC BY 2.0

Alles geht in Richtung Digitalität! Wir müssen uns auf die Digitalisierung einstellen! Wir müssen auch endlich digitaler werden! Alle Berufe werden digital sein!

Schlagworte, die die aktuellen Diskussionen schon seit einiger Zeit prägen. Auch ich habe lange Zeit kritisiert, dass „die Digitalisierung“ in Deutschland so wenig voran kommt. In den aktuellen Krisensituationen (Demokratiekrise, Pandemien etc.) wird jedoch an manchen Stellen immer deutlicher, was da eigentlich seit siebzig Jahren passiert und worauf es hinauslaufen könnte.

„Seit siebzig Jahren“ deshalb, weil die Digitalisierung nichts anderes ist, als die Fortsetzung der Entwicklung und Verbreitung der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) mit Hilfe von Silizium basierten Prozessoren. Zu dieser Zeit formulierte Gordon Moore sein berühmtes Gesetz, nach dem die IT Entwicklung einer exponentiellen Beschleunigung unterliegt [1]. Wir wissen aufgrund der aktuellen Aussagen der Epidemiologen vielleicht jetzt alle, was Exponentialität bedeutet: eine vor allem im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr begreifbare Geschwindigkeit der Verdoppelung von Entwicklungskurven.

Der Medienwissenschaftler Felix Stalder hat vor einiger Zeit die „Kultur der Digitalität“, also die Erscheinungs- oder Seinsweise dieses Phänomens, beschrieben als gekennzeichnet durch eine erhöhte Prozessorientierung („Algorithmizität“), eine Verdeutlichung der Vernetzungen und Stärkung von Beziehungen („Referentialität“) und im Grunde als Effekt daraus: eine Aktivierung von Communities („Gemeinschaft“) [2].

Der erste Aspekt wird schon länger thematisiert und beobachtet z.B. im daten- und indikatorenbasierten Management, welches zur gleichen Zeit (in der 1950er Jahren) von Peter Drucker als „Management by Objectives“ (MBO) eingeführt hat. Alleine „Kennzahlen“ („Daten“) gelten heute als Grundlage jeder (Management-) Entscheidung. Die Abbildung der Realität in Prozesslandkarten z.B. mit BPML wird überall betrieben und vielfach sind Versuche zu beobachten, Entscheidungen zu automatisieren, wie dies uns Aladdin von Blackrock im Finanzmanagement vormacht.

Referentialität ist technisch die Grundlage von Hypertext und Hypermedia, d.h. konkret der Internetstruktur (HTTP). Die Erkenntnis, wie wichtig „Vernetzung“ auch in anderen Bereichen ist, setzt sich langsam durch, wenn wir mittlerweile von der Komplexität von Ökosystemen sprechen und Konzepte aus der Systemtheorie oder darüber hinaus bemühen [3]. Die Soziologen sprechen von einem allenthalben zu konstatierenden „relational turn“ [4]. Soziale Netzwerktheorie und die Analyse von egozentrierten Netzwerken habe ich schon in den 1980 Jahren betrieben. Eine interessante Kulmination findet sich in den Social Physics von Alex Pentland [5], der mit den neuen technischen Möglichkeiten von wearables soziale Interaktionen empirisch erstaunlich analysieren kann.

Das Stichwort Community ist seit Lave und Wenger als „community of practice“ [6] in der Sozialwissenschaft schon lange eingeführt. Die Bedeutung von Gemeinschaft als Basis von Gesellschaft, wie sie in der deutschen Sozialwissenschaft zu Anfang des letzten Jahrhunderts diskutiert wurde, wird in letzter Zeit wieder entdeckt [7]. Und die Communities of practice werden z.B. bei der Bürgerwissenschaft („citizen science„) aktiv auch in der Wissenschaft genutzt.

Sieht man aber alle drei Tendenzen zusammen, so sind wir vor allem bei der Praxis der sogenannten Social Media bzw. den „Sozialen Netzwerken“ wie Twitter oder Facebook, von denen oft gesagt wird, sie ließen Echoräume entstehen, abgeschlossene Resonanzräume, die sich von Realität und Fakten, aber vor allem von anderen Meinungen abschotten.

Hier kommt ein Aspekt der Digitalisierung zum Tragen, der von Stalder nicht so in den Vordergrund gerückt wird. Die IKT-Entwicklung und die weltweite technische Vernetzung wirtschaftlicher Aktivitäten und sozialer Kommunikation wird geprägt durch Netzwerkökonomie, deren wesentliches Charakteristikum ist, zu Monopolbildung zu führen. Nur „Plattformen“ der nun entstandenen Plattformökonomie, die eine kritische Masse erreichen, überleben und werden im Sinne des Matthäus-Effekt immer größer [8]. Deshalb nehmen wir gerne GAFAM so kritisch in den Blick (Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft).

Das interessante an der Plattformökonomie ist, dass sich „Plattformen“ als völlig neutral empfinden. Sie bieten ja nur die Infrastruktur für die Handlungen anderer, für die sie keine Verantwortung übernehmen. Dass die Infrastruktur in keinster Weise „nur“ neutral ist, erkennt man an der forcierten Verkehrsinfrastrukturentwicklung mit ihren unzähligen Toten als Opfer für das Florieren der Wirtschaft der Automobilindustrie. Sehr aktuell wird aber auch eine Mitschuld an demokratiefeindlichen Entwicklungen bei den Social Media Plattformen gesehen. Bezeichnend ist die Diskussion um die (zu späte und sehr) vorsichtige Sperrung der Twitter– und Facebook-Accounts von Donald Trump. Zu einem Zeitpunkt, an dem klar wird, dass die Macht wechseln wird, ändern die Plattformen ihre „Politik“.

Hier wird m.E. überdeutlich, dass Infrastruktur nicht neutral ist und nicht sein kann, sondern Verantwortung zumindest gegenüber der hegemonialen Instanz hat. Das ist ja gerade auch die aktuelle wichtige Diskussion um die Rolle der Bibliotheken in der Demokratie: sollen sie tatsächlich wie Twitter auch extreme Meinungen zur Diskussion veröffentlichen? Bei der amerikanischen Twitter-Diskussion wird gesagt, solche Plattformen seien ja keine „Verleger“, sonst müssten sie Tausende von Lektoren beschäftigen. Es scheint ihnen aber nichts anderes übrig zu bleiben, denn Facebook und Twitter beschäftigen ja in der Tat zunehmend fact und compliance checker.

Die Stürmung des Capitols im Januar 2021 macht m.E. die Bedeutung der Kultur der Digitalität und deren beschleunigte Entwicklung überdeutlich. Der bejubelte Digitaliserungsschub durch die Corona-Krise macht uns aber auf eine zweite Konsequenz der Sakralisierung des Digitalen [8] aufmerksam. Wir erkennen an manchen Stellen doch, dass Menschen nicht nur aus rationalen Entscheidungen und digitalisierbaren Existenzweisen bestehen. Menschen brauchen Gemeinschaft und soziale Einbindung, aber eben nicht nur technisch vermittelt, sondern in der persönlichen Begegnung, die sehr viel mehr transportiert als Bild und Ton der Videoschalte. Menschen sind vor allem körperliche und emotionale Wesen und können auf 0/1 – Daten, also das rational-digitale nicht reduziert werden. Und sie lassen sich auch nicht darauf beschränken, so dass sich m.E. ein weiteres – in letzter Zeit häufiger betontes Charakteristikum des Digitalen ergibt: es macht die Bedeutung des Analogen, Physischen und Biologisch-Natürlichen des Menschen wieder bewusst. Die vor-coronale Diskussion um der „Dritten Ort“ mag dazu ein erstes Anzeichen gewesen sein.

Das langjährige, jetzt deutlicher werdende Ergebnis des Mooreschen Gesetzes, des Digitalen also, ist:

  • die Monopolisierungstendenz der Plattform-Ökonomie mit den Folgen einer Abnahme von Offenheit und Gefahren für die Offene Gesellschaft
  • die Rehabilitierung der Komplexität des Analogen als Gegenbewegung (und reale Re-Aktion) der sich nur noch im digitalen bildenden Communities

Beides überdeutlich symbolisiert in Washington am Dreikönigstag 2021.

Referenzen

[1] Mulay, Apek (2016): Sustaining Moore’s Law. Uncertainty leading to a certainty of IoT revolution. San Rafael, California: Morgan & Claypool Publishers (Synthesis lectures on emerging engineering technologies, #1).

[2] Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 2679). / Stalder, Felix (2018): The Digital Condition. Newark: Polity Press.

[3] Latour, Bruno (1996): Ces réseaux que la raison ignore – laboratoires, bibliothèques, collections. In: Christian Jacob und Marc Baratin (Hg.): Le pouvoir des bibliothèques la mémoire des livres en Occident. Paris: Albin Michel (Bibliothèque Albin Michel Histoire), S. 23-46.

[4] Dépelteau, François (Hg.) (2018): The Palgrave Handbook of Relational Sociology. Springer International Publishing. Cham: Springer International Publishing.

[5] Pentland, Alex (2015): Social physics. How social networks can make us smarter. Published with a new preface. New York, NY: Penguin Books.

[6] Lave, Jean; Wenger, Etienne (1991): Situated learning. Legitimate peripheral participation. Cambridge: Cambridge Univ. Pr (Learning in doing).

[7] Tönnies, Ferdinand (2012): Gemeinschaft und Gesellschaft [1931]. In: Ferdinand Tönnies: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft. Hg. v. Klaus Lichtblau. Wiesbaden: Springer VS (Klassiker der Sozialwissenschaften), S. 231-255.

[8] Linde, Frank (2008): Ökonomie der Information. 2. Aufl. Göttingen, Göttingen: Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek; Univ.-Verl. Göttingen.

[9] Henningsen, Erik; Larsen, Håkon (2020): The Digitalization Imperative. Sacralization of Techology in LAM Policies. In: Ragnar Audunson, Herbjørn Andresen, Cicilie Fagerlid, Erik Henningsen, Hans-Christoph Hobohm, Henrik Jochumsen et al. (Hg.): Libraries, archives and museums as democratic spaces in a digital age. Berlin: De Gruyter Saur, 53-71.