Theoretical Turn?

David Bawden im PIK

Das Potsdamer informationswissenschaftliche Kolloquium ist ziemlich „global“ geworden. Nach dem „nordischen“ Start und dem morgendlichen Talk mit Michael Buckland aus Berkeley hatten wir wohl wieder zwei der berühmtesten Informationswissenschaftler zu Gast in der Videokonferenz: David Bawden und Lyn Robinson von der University of London, bekannt (nicht nur) wegen ihres textbooks „Introduction to Information Science“ (2012). Diesmal waren ca. 60 Teilnehmer aus verschiedensten Ländern dabei, obwohl wir wenig Erinnerungswerbung gemacht hatten, weil wir gerade in der Hochschule technische Probleme hatten und praktisch bis zur letzten Minute nicht wussten, ob wir das Videomeeting wie geplant durchführen konnten.

Der Aufhänger für diesen Beitrag zu unserem Masterkolloquium war ihr Artikel „Curating the infosphere: Luciano Floridi’s Philosophy of Information as the foundation for Library and Information Science“ In: Journal of Documentation, 2018, 74(1), 2-17, den wir schon mehrfach als Prüfungsgrundlage hatten. David gab eine, wie wir fanden, wunderbar klare Einführung in die Grundüberlegungen von Luciano Floridis „Philosophy of Information“ (=PI). Dennoch war ein Unterschied spürbar zwischen der britischen Vortragsweise und dem pragmatisch amerikanischen Stil, den wir im Vortrag davor erlebt hatten.

Thematisch schien dieser Vortrag (vorwiegend gehalten von David) zunächst wenig zu tun zu haben mit den vorherigen Kolloquiumsbeiträgen. Dennoch stellte sich bald heraus, dass die PI ähnliche Fragen adressiert wie die „Digital Public Sphere –“ und die „Document Theory„. Vor allem aber wurde deutlich, dass die PI aufgrund ihrer breiten, insbesondere philosophischen Fundierung dem theoretischen Ekklektizismus, der der neuerer LIS oft vorgeworfen wird, eine durchdachte Grundlage entgegenzusetzen hat. Sehr wohl bedenkt Floridi vorangegangene prinzipielle Überlegungen der „Library and Information Science“ (LIS), wie die Welt 3 Theorie von Popper, die Brookes Definition beeinflusste oder die Social Epistemology (=SE) von Egan und Shera, die ihre Basis hatte in der Dokumentationsbewegung der 1920er und 30er Jahre (Paul Otlet, Wilhelm Ostwald u.a.). Der Punkt, die PI zu verstehen, sind ihre vier Grundkonzepte und Floridis Heureka Moment, dass wir mit der „Digital Transition“ z.Zt. ein „once only in the history of humanity“ erleben.

Bawden und Robinson erklären auf Folie 23:

will we undergo the transition to onlife in the infosphere, as the result of the fourth revolution, and need to balance (not necessarily reduce) information frictions

Die Hervorhebungen (von mir) in dem Zitat kennzeichnen die vier wesentlichen Grundkonzepte der PI, nämlich, dass aufgrund der vierten Revolution, der vierten Kränkung der Menschheit, nunmehr unser Leben „onlife“ vorwiegend in der Infosphäre stattfindet und z.B. die LIS professionals aufgerufen sind, die Störungen im Informationsfluss auszubalancieren. Die Auswirkungen genau dieser Störungen erleben wir z.Zt. besonders deutlich im politischen und gesellschaftlichen Geschehen.

Aus klassischer bibliothekswissenschaftlicher Perspektive gedacht – so würde ich der PI entgegnen – ist es doch eigentlich eine Art Hybris, zu denken, dass gerade wir in einer „once only“ Epoche leben sollten. Das mag zwar die Notwendigkeit begründen, andere Wissenschaften auf das Informations-Phänomen zu fokussieren wie es Manuel Castells für die Soziologie getan hat und wie es Floridi für die Philosophie tut. Aber gerade der Begriff Infosphäre und insbesondere der (nicht von Bawden erwähnte) der Inforgs (dass Menschen informational organisms sind) deutet ja doch darauf hin, dass Menschen immer schon Informavores waren und sind. Das Konzept der Informavores stammt aus einer Zeit weit vor der von Floridi deklarierten Hyperhistory [1] und wurde diskutiert in dem Epoche machenden Sammelband von Machlup und Mansfield zu Beginn der aufkommenden „Informationsgesellschaft“, in dem auch Jesse Shera sein Konzept der Social Epistemology (SE) noch einmal vorstellte [2].

Hier waren schon wichtige Grundlagen gelegt, die jedoch in der Tat durch die rasante Entwicklung der IT und vor allem der Kommunikationstechnologie verdeckt wurden. In diesem Sinne finde ich es heute auch nicht mehr richtig, von „Bibliotheken als Informationseinrichtungen“ zu sprechen, wie ich es noch von Paul Kaegbein [3] gelernt habe und wie es sicher zu dieser Zeit damals (1980/90er in Köln) noch richtig schien. Besser wäre schon damals gewesen, genauer zu schauen, wie Information entsteht (nämlich durch „Konversation“ und Interaktion) und was daraus resultiert, nämlich „Wissen“ [4]. Aber das ist natürlich ziemlich kompliziert, so sehr, dass selbst die Kognitionswissenschaft und KI Forschung das Problem noch nicht wirklich gelöst haben [5]. Wir können also der Philosophie und dem langjährigen Durchhaltevermögen Floridis dankbar sein, dass wir jetzt erneut eine tiefgehende Diskussion dazu haben, was uns Menschen als informational organisms ausmacht.

Ich persönlich denke [6], dass eine erneuerte Kombination von Kognitionsforschung (wie nehmen wir als Individuum Informationen auf?) und Social Epistemology (SE) (wie gewährleisten wir als Gemeinschaft die Verstehbarkeit der Welt 3 und der überlieferten Dokumente?) den LIS gut tun würde. Zu Letzerem sagten Bawden/Robinson in dem Vortrag selber: „the task of LIS is the stewardship of the semantic environment„. Wenn das nicht der Intention von Otlet und Shera entspricht…? Es gibt in der Tat ja auch Reaktionen von Floridi zur Social Epistemology [7], aber genauso wie David Bawden in unserer Diskussion dies explizit von sich sagte, setzt sich die PI nicht wirklich mit dem Konzept der SE auseinander, sondern etabliert zunächst nur ihr eigenes Programm aus philosophischer Perspektive. Der Vorwurf, SE wäre im Sinne von Wissensorganisation zu weit für LIS und würde sich ja nur auf Dokumente beziehen geht m.E. in beiden Punkten an SE vorbei, wie wir gerade in den letzten Vorträgen im Kolloquium gesehen haben. Aber eben nur Information Professionals können dieses Potential erkennen. 😉

Die Herausforderung, die in der Diskussion im Kolloquium m.E. deutlich wurde, ist, dass die LIS ihre „existential crisis“ (Bawden) nur wird überwinden können, wenn sie (mit der PI) philosophischer wird. Meine Frage, ob man dann nicht sogar auch von einer Art theoretical turn der LIS sprechen sollte, verneinte David Bawden nicht.

Am Rande wurde erwähnt, dass im kommenden Jahr eine gänzlich überarbeitete neue Auflage der Introduction erscheinen wird. Wir sind sehr gespannt.

Referenzen:

[1] Miller, George A. (1983): Informavores. In: Fritz Machlup und Una Mansfield (Hg.): The Study of Information. Interdisciplinary Messages. New York: Wiley, S. 111-113.

[2] Shera, Jesse H. (1983): Librarianship and information science. In: Fritz Machlup und Una Mansfield (Hg.): The Study of Information. Interdisciplinary Messages. New York: Wiley, S. 379–388.

[3] Kaegbein, Paul (1973): Bibliotheken als spezielle Informationssysteme. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 20 (6), S. 425-442.

[4] Lankes, R. David (2018): Why Do We Need a New Library Science. In: Bibliothek. Forschung und Praxis 42 (2 spec. issue: „Next Library Science“, hrsg. v. H.-Chr. Hobohm), S. 338-343. DOI: 10.1515/bfp-2018-0036.

[5] obwohl sie meint, auf einem guten Weg zu sein: Clark, Andy (2016): Surfing uncertainty. Prediction, action, and the embodied mind. Oxford, New York, Auckland: Oxford University Press.

[6] Hobohm, Hans-Christoph (2019): Andere Disziplinen als Orientierungshilfen für die Informationswissenschaft. PI (Philosophy of Information), SE (Social Epistemology) oder Natur, Leben und Evolution. In: Willi Bredemeier (Hg.): Zukunft der Informationswissenschaft. Berlin: Simon Verlag für Bibliothekswissen, 128-148.

[7] Floridi, Luciano (2002): On defining library and information science as applied philosophy of information. In: Social Epistemology 16 (1), S. 37-49. DOI: 10.1080/02691720210132789.