Michael Buckland in Potsdam (Germany)

„He is a legend“ twitterte jemand als Antwort auf die Ankündigung seines Vortrags im PIK (Potsdamer Informationswissenschaftlichen Kolloquium). Michael Buckland gilt als einer der bedeutendsten Informationswissenschaftler und er ist immer noch sehr aktiv mit seinen 79 Jahren. Es war ein außerordentliches Vergnügen, mit ihm seinen Beitrag zur Vortragsreihe zu diskutieren und vorzubereiten. Ich hätte nicht erwartet und schon gar nicht von ihm verlangt, dass er den Bogen spannt über alle Vorträge des Semesters. Und schließlich war es auch außerordentlich professionell wie er seinen Vortrag via Zoom in unserem Kolloquium hielt. Wohl wissend um die potenzielle Sprachbarriere hatte er recht viel Text auf seinen Folien, die so nun auch gut nachnutzbar sind.

In dem Zoom Meeting waren teilweise über 120 Teilnehmer. Unter ihnen nicht nur Studierende von unseren drei Standorten (FH Potsdam, IBI HU Berlin und CityLIS London), sondern auch einige bekannte und renommierte Informationswissenschaftler:innen aus der ganzen Welt (von Japan über Skandinavien bis nach Kalifornien). Herzlichen Dank an dieser Stelle an Vivien Petras, seine Schülerin, die den Kontakt herstellte und die Diskussion moderierte!

Er zog in seinem Vortrag eine neue und für viele Teilnehmer überraschende Linie von der Dokumentation und documentologie zur globalen Bibliotheksgeschichte und der Frage, welche Aufgaben Informationswissenschaftler haben. Aus der Multidimensionalität des Dokuments erweisen sich auch für ihn die Verantwortung unserer Profession „Dokumente“ zu verzeichnen und zu speichern als Träger gesicherten Wissens und gesellschaftlicher Evidenzen. Daneben sieht er als Aufgabe für informationswissenschaftliche Fachbereiche (iSchools), die Analyse zu ermöglichen, welche Dokumente in welchem Kontext welche Funktion haben oder hatten: er verwendete dafür den Begriff „Forensics„.

Der Titel seines Vortrags, den er von Robert Pagès, einem Schüler von Madame Documentation, Suzanne Briet, übernahm, ergab für Michael Buckland eine elegante Überleitung zu dem weiteren Themenkomplex der Vortragsreihe, nämlich das ja auch gerade in den Vereinigten Staaten so wichtige Thema, welche Rolle Information/Dokumente für demokratischen Gesellschaften spielen. Mit seinem Satz „Libraries need Democracy“ wollte er darauf hindeuten, dass unser aktuelles Konzept von Bibliotheken eine Zuschreibung aus der aktuellen Gesellschaftsform ist, denn auch undemokratische Staaten „benötigen“ Bibliotheken. Ich verstehe ihn so, dass die „richtige“ Form von Bibliothek nur in einer Demokratie wirkt. Leider war hier die Zeit zu knapp dies auszudiskutieren.

Ebenso seine Überlegungen zur Medienentwicklung in Anlehnung an Pagès, dass das Projekt der Aufklärung gescheitert sei, weil es zunehmend medienvermittelte und immer weniger direkte Kommunikation, also keine direkte Erfahrung der „Evidenz“ mehr gäbe, hätte man intensiver diskutieren mögen. Die Beobachtung ist sicher richtig, gerade wenn man die amerikanischen Wahlen vor Augen hat, dass Medienrevolutionen gesellschaftliche Entwicklungen prägen. Der Symbolcharakter von Dokumenten, dessen Wirkung Pagès richtigerweise insbesondere in ihren Beziehungen und nicht nur auf der Ebene der Semantik sieht, ergibt für Buckland mit der Netzmetapher die infrastrukturelle Notwendigkeit von Dokumenten für „Kultur“ (gemeint ist wahrscheinlich „Gesellschaft“).

Ich persönlich würde jedoch weiter gehen und an dieser Stelle diese Frage der aufgeklärten (autonomen?)  Kommunikation nicht erst mit Dokumenten und ihrem physischen Trägermedium verbinden, sondern bei den symbolischen Formen, ihrem Verständnis und ihrer Vermittlung bleiben. Die Idee der symbolischen Formen als Basis für Gesellschaft von Ernst Cassirer stimmt in Teilen mit dem Ansatz von Pagès überein (ob Pagès Cassierer kannte?). Interessant ist aber zu wissen, dass Cassirer dies in und mit der kulturwissenschaftlichen Bibliothek Aby Warburgs entwickelt hat und gerade nicht auf den physikalischen Aspekt der Dokument-Trias (vu-lu-su, bzw. physical, mental, social) eingegangen ist. Wenn das Physikalische und das Soziale zusammen die Infrastruktur ergeben (Folie 2 bei Buckland), so ist doch gerade der intersubjektive und mentale Prozess umso (?) bedeutender (rechte Seite der Trias). „Komplementarität des Dokuments“ bedeutet ja gerade, dass jeder der drei Aspekte nicht ohne die beiden anderen verständlich ist, aber eben auch nicht alleine gesehen/behandelt werden kann.

Meiner Meinung nach haben Aby Warburg, Paul Otlet und dann Jesse Shera genau dies verstanden und gemeint in ihrer Praxis und Theorie des Dokuments. Wenn Otlet von der bataille sociale spricht, in deren Zentrum sich das biblion (die kleinste Wissenseinheit) befindet, und wenn Shera von der Informationswissenschaft fordert, social epistemology zu betreiben, so betonen beide die „rechte Seite der Trias“, auch weil Bibliothek und Dokumentation verständlicherweise meist zu sehr die physikalisch-soziale Seite ihrer „Medien“ im Fokus haben.   Auch die Fokussierung der Informationswissenschaft auf Archivierung und Forensik wird gerade ihrer Aufgabe nicht gerecht, wenn sie wie Buckland deutlich sagte, interessante „socially needed questions“ stellen soll. Er sagte selbst, eine solche Frage wäre die des Nicht-Wissens (ignorance). Aber erfordert nicht gerade diese transdisziplinäre (an einem globalen Problem orientierte) Ausrichtung der Informationswissenschaft, selbst über den Dokumentbegriff (oder zumindest das Wort) als solches hinauszugehen – auch weil dieser stets vom Problem ablenkt?

Insofern glaube ich, dass die reine „medien“-bezogene Begründung für ein Scheitern der Aufklärung zu kurz greift. Denn woher kommen Medien und deren „Revolutionen“:  sie sind m.E. nur Ausdruck des Antriebs der Menschen, sich die Welt verfügbar zu machen (vgl. Hartmut Rosa, Bernard Stiegler). Und die Entwicklung von Sprache (symbolischen Formen) ist dazu ein erster Baustein und deren Materialisierung auf Medien (Schrift und Dokument) lediglich ein weiterer Schritt im sog. technologischen Fortschritt. Und da hilft – jedenfalls mir – das Konzept der Hyperhistory von Floridi weiter.