Das Dokument als Kern der Informationswissenschaft

Die Gastprofessorin am Fachbereich Informationswissenschaften, Prof. Dr. Roswitha Skare, berichtete gestern (in personam) im Rahmen des PIK – „Potsdamer Informationswissenschaftliches Kolloquium“ über die Neudefinition und Wiederentdeckung des „Dokuments“ als Grundlage informationswissenschaftlicher Studiengänge am Beispiel des Studiengangs an der Arctic University in Tromsø, Norwegen.

Hier ein paar ganz persönliche Notizen, die ich mitnehme. Zunächst einmal vielen Dank an die über 50 Teilnehmer bei Zoom aber auch im Seminarraum. Ich habe viele wichtige informationswissenschaftliche Gesprächspartner im Auditorium „gesehen“. Unter Ihnen Michael Buckland. Leider war ich bei der Moderation und Diskussion etwas gehandicapt, weil mein Teamteaching Partner wegen eines Fahrradunfalls nicht dabei sein konnte (Deshalb bin ich auch zu keinem Photo gekommen.). Das hybride Veranstaltungssetting wurde von den Anwesenden als wichtig und wohltuend empfunden. Es bot aber leider auch eine zusätzliche Organisationskomponente. Die Online Teilnehmer haben vielleicht (leider) merken müssen, dass ein vor Ort – Vortrag und eine live Diskussion mehr Inhalt transportiert als das bloße Audiosignal.

Ich hatte mir von dem Vortrag nicht nur Einblick gewünscht in die Genese des norwegischen Studiengangs „Document Studies„, sondern vor allem auch Einsichten von dort, wie das neue Konzept als Studiengang z.B. bei der Bibliothekarinnenausbildung gewirkt hat. Aus Sicht der Entwicklung des Studiengangs – worüber wir länger diskutiert haben – wurde deutlich, wie sehr der Studiengangname eine Frage des Branding und der Studierendenakquise ist. Insofern diskutierten wir länger über die vermittelten Kompetenzen und die Frage der Einbindung in das Berufsfeld. Vor allem erfuhren wir, dass der Studiengang dann auch nach einiger Zeit aus diesen Gründen umgelabelt wurde in „Media Studies„, was zum Effekt hatte, dass wieder falsche Berufserwartungen an dieses Studium generiert wurden. Der fachliche Impetus aus Tromsø blieb jedoch erhalten und wird in der Document Academy „DOCAM“ kontinuierlich fortgeführt.

Im Vortrag selber wurde deutlich, als Roswitha Skare den schönen Text von Jenna Hartel zu den vielfältigen „Turns“ [1] der Informationswissenschaft zitierte, dass es zwar einen „neo-documentary turn“ gegeben hat, wir uns aber nun doch schon im übernächsten Paradigma der „Embodied Cognition“ befinden. Die Texte von Rosiwtha Skare und Nils Lund hatten uns im Seminar auch schon Anlass gegeben, bei der Materie/Inhalt-Komplementarität über die Materialisierung von Dokumenten allein im Gehirn der Gesprächspartner nachzudenken. Ohne zunächst dem „embodied turn“ (z.B. bei Annemaree Lloyd) weiter nachzugehen.

Es blieb aber im Raum, dass das Konzept des Dokuments für die Informationswissenschaft zentral ist. Leider ließ m.E. die hybride Diskussionsform nicht zu, dass wir dies intensiver vertiefen konnten. Vor allem der als interaktiver Anteil des Vortrags eingesetzte Ausflug zum Konzept des Paratext von Gérard Genette [2] mit dem Beispiel eines poetischen norwegischen Textes, bei dem schon die Covergestaltung den Inhalt reflektiert, konnte nicht vertieft werden, so spannend diese ja auch literaturtheoretische Perspektive auf das Dokument ist.

Auch hätte man bestimmt auf das von Roswitha Skare erwähnte Konzept  von Gorichanaz und Latham näher eingehen sollen, die in ihrer „Document phenomenology“ [3] die neuen Konzepte „intrinsic„, „extrinsic„, „abtrinsic“ und „adtrinsic information“ einführen (s.Bild). Und ganz persönlich wäre ich gerne auf den Vergleich und die Weiterentwicklung des Document-Konzept in Frankreich seit Pédauque [4] eingegangen, das sich evtl. mit dem Komplementaritätsprinzip verbinden lässt.

Wichtig für mich waren aber die abschließenden Bemerkungen von Roswitha Skare, die auf die Frage von Vivien Petras nach dem Dokument als Kern der Library and Information Science, vor allem auf die Interdisziplinarität des Konzeptes (im Sinne des holistischen Prinzips von Gorichanaz und Latham) verwies und deutlich dafür plädierte, dass informationswissenschaftliche Studiengänge das Prinzip des co-teaching als wesentliches didaktisches Mittel verankern sollten. Nur damit könne man eben dem Dokument  gerecht werden. Und wenn das schon „nur“ für das Dokument gilt – so meine ich – müsste dies umso mehr für die Information und die Informationswissenschaft gelten [5].

Referenzen:

[1] Hartel, Jenna (2019): “Turn, turn, turn.” Proceedings of CoLIS, the Tenth International Conference on Conceptions of Library and Information Science, Ljubljana, Slovenia, June 16-19, 2019. Information Research. 24 (4), paper colis1901. Retrieved from http://InformationR.net/ir/24-4/colis/colis1901.html

[2] Genette, Gérard (1989): Der Paratext. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/M.: Campus. Vgl. auch: Skare, Roswitha (2020): Paratext. In: Knowledge Organization 47 (6), S. 511–519. Online verfügbar unter https://www.isko.org/cyclo/paratext.

[3] Gorichanaz, Tim; Latham, Kiersten F. (2016): Document phenomenology. A framework for holistic analysis. In: Journal of Documentation 72 (6), S. 1114–1133. DOI: 10.1108/jd-01-2016-0007.

[4] Tricot, André; Sahut, Gilles; Lemarié, Julie (2016): Le document. Communication et mémoire. Louvain-La-Neuve: De Boeck Supérieur (information & stratége).

[5] vgl. auch: Hobohm, Hans-Christoph (2019): Andere Disziplinen als Orientierungshilfen für die Informationswissenschaft. PI (Philosophy of Information), SE (Social Epistemology) oder Natur, Leben und Evolution. In: Willi Bredemeier (Hg.): Zukunft der Informationswissenschaft. Berlin: Simon Verlag für Bibliothekswissen, 128-148. Zur Transdiziplinarität vgl. auch diesen Blogbeitrag.