Kalervo Järvelin: Keynote auf der ISI2011
Der Keynotevortrag von Kalervo Järvelin mit dem Titel „Information Retrieval: Technology, Evaluation and Beyond“ auf der diesjährigen ISI-Tagung in Hildesheim (dem „Internationalen Symposium der Informationswissenschaft„) war ein Plädoyer für eine Erneuerung der Informationswissenschaft, so wie er es mit Peter Ingwersen zusammen in „The Turn“ schon 2005 ausführlich dargelegt hatte. Er selbst spricht hier vom Öffnen der Büchse der Pandora, weil die Informationswissenschaft damit das ruhige Terrain des Cranfield-Modells der Retrievalforschung verlassen muss und sich endlich dem Kontext des informationssuchenden Nutzers – also der Realität – widmen sollte: und die ist eben sehr viel komplexer als abgeschlossene, experimentelle Modelle. Schwerwiegender noch: sein Vorwurf an die IR-Forschung, selbst im abgeschlossenen Zirkel der Recall/Precision-Test-Experimente keine Analyse leitende Theorie gehabt zu haben – nur begrenzte Modelle. Dies wäre wissenschaftstheoretisch in den Naturwissenschaften undenkbar.
Leider ist im sehr schönen Tagungsband der ISI2011 der Vortrag von Järvelin noch nicht enthalten, so dass man auf das Video von der Tagung zurückgreifen muss (kann).
What you don't see is what you don't understand
Hier ein paar Screenshots: „Wydsiwydu“ What you don’t see ist what you don’t understand: IR Forscher sind wie Blinde, die einen Elephanten ertasten, sich aber keine Vorstellung machen können, von dem, was das ist, was sie da in den Händen halten: der Vorwurf, die Informationswissenschaft weiß gar nicht, was Informationssuche ist, da sie die reale Welt der aufgabenbezogenen Informationsarbeit nicht ins Blickfeld nimmt.
IR ohne Theorie: nur Modelle im Detail
Information Retrieval-Forschung hat viele Modelle im Detail der ingenieurmäßigen Realisierung von Suchmaschinen, aber keine Theorie darüber, wie die Maschine im realen Leben funktionieren soll. Das wäre so, als ob die Automobilindustrie nur den Moter baut und weder Sitze noch Lenkrad vorsieht.
Das Cranfield Paradigma: ohne Nutzer und Kontext
Information Retrieval-Forschung (immer noch fast ausschließlich nach dem Cranfield-Paradigma arbeitend) sieht nur den reinen Dokumentationskreislauf und „übersieht“ den Kontext in dem nach Informationen gesucht wird: die Aufgaben- und Weltbezogenheit des Informationsnutzers.
In Hildesheim gab es relativ wenig Diskussion nach dem Vortrag, obwohl Järvelin schon befürchtet hatte, dass mit Tomaten und Bananen nach ihm geworfen würde. Ich denke, das Problem ist in der Tat die Büchse der Pandora. Wir müssen uns nach dem Turn mit „Dingen“ beschäftigen, die bisher im „Information Engineering“ gar nicht im Blickfeld waren und die auch naturgemäß von den Personen, die in diesem Feld tätig sind, gar nicht wirklich eingeschätzt werden können. Der einzige Kommentator des Vortags aus dem Publikum gestand denn auch, dass er nicht vom Fach sei und dass er erstaunt sei, dass immer noch über „Nutzerorientierung“ gesprochen werden muss.
Aber wie im Bibliothekswesen, wo in den letzten Jahren die Forderung, das Controlling von Output-Kennzahlen auf Outcome- und Impact-Indikatoren umzustellen, auf viel Unverständnis (und Unvermögen) stieß, so ist es im aktuellen Diskurs in dieser/n Domäne(n) nicht möglich, das was der Büchse der Pandora entweicht zu verstehen bzw. wissenschaftlich zu kontollieren. Vielleicht wird es zunehmend wichtiger, Diskurse und Analysen des Informationsbegriffes wie sie Peter Janich oder Rafael Capurro vorlegen zu verfolgen und zu verstehen… (Vgl. das Interview mit Capurro in der letzten IWP.)
Ich war persönlich wegen meines Skiunfalls nicht in Hildesheim, konnte aber über Twitter recht viel von der Atmosphäre mitbekommen. Bei Facebook gibt es auch einige Photos von der Tagung, u.a. ein Photo von mir als ich via Skype die Konferenz für 2013 nach Potsdam einlade (Stay tuned: #isi2011 -> #isi2013).