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Was ist eigentlich…

Web2.0 – fragte Mario Sixtus stets am Ende seines Elektrischen Reporters.
Daran anschließend könnte man fragen: was ist eigentlich … Informationswissenschaft?

Genau dies tut die Berliner Informationswissenschaft (IBI, HU: hier Libreas) in einer aktuell laufenden Umfrage an 130 Informationswissenschaftler Deutschlands als Vorbereitung zu einem Workshop „Information und Gesellschaft. Zur politischen Dimension der Informationswissenschaft“ auf der Informare. Der Titel des Workshops und die Ansprache der Experten suggeriert leider auch schon die Antwort.

Die Anfrage lautet wie folgt:

Re.: Stand der Informationswissenschaft

„Das Information-Retrieval- und Dokumenten-Paradigma ist für eine zeitgemäße Informationswissenschaft nicht mehr zureichend.
Digitale Räume sind zunehmend solche der Kommunikation sowohl von Fachöffentlichkeiten wie auch der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit an sich, die zugleich ökonomischen Bedingungen unterliegen.
Die Aufgabe einer zeitgemäßen Informationswissenschaft entspricht der Analyse, Reflektion und Innovation aller Prozesse im Umgang mit Wissen und Information. Dies schließt die Bewertung der Folgen dieser Prozesse und ggfs. die Modellierung von Alternativen ein.
Die gesamtgesellschaftliche Dimension der Digitalisierung von Diskursen aller Art erfordert eine bislang nicht zureichend umgesetzte Verbindung von informationstechnischen, informationssoziologischen, informationsökonomischen und informationsethischen Perspektiven.”

Nun, meine Antwort ist eigentlich schon publiziert [1].

Im Prinzip stimme ich also der Aussage voll zu. Als weitere Akzente bei der Formulierung der Konsequenzen für die Informationswissenschaft würde ich jedoch trotz allem Anleihen bei der Informatik machen, die mehr noch als es hier thematisiert wird, die mikrosoziologische, ja psychologische Perspektive für sich entdeckt hat (Stichwort: UX Design). Ingwersen und Järvelin plädieren ja vor allem für die Wende der Retrievalforschung (aka Information Science) in Richtung auf die Untersuchung der Interaktion des (einzelnen) menschlichen Nutzers mit Informationssystemen. Hier hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten in der  skandinavischen und anglo-amerikanischen Informationswissenschaft das Paradigma der Erforschung des Information Seeking Behaviour so stark verbreitet, dass sogar die ASIS&T ihre Tagungsstruktur seit 2010 dem dezidert angepasst hat. Wohlgemerkt, jene ehrwürdige Vereinigung von Informationswissenschaftlern weltweit, die vor nicht allzu langer Zeit sich noch genötigt fühlte, ihrem Namen ein „T“ wie „Technology“ hinzuzufügen. Mittlerweile macht die Technologie mehr mit uns, als uns lieb ist. (Womit ich nicht unbedingt auch dem AIBS [2] verfallen möchte und (noch) nicht mit Carr und Schirrmacher mitgehe!).

Ich würde also der Aussage der Umfrage zustimmen unter zwei Prämissen:

  • die Informationswissenschaft braucht weiterhin neben der angesprochenen, dringend notwendigen gesamtgesellschaftlichen Makroperspektive auch noch die Mikro-Perspektive, die sich mit Informationspsychologie (bis hin zur Neurologie à la Interface Design) und Informationsdidaktik benennen ließe. Zu dieser Thematik wird gerade in Potsdam eine Professur mit der Denomination „Wissenstransfer und Informationsdidaktik“ eingerichtet. Der im Sommersemester 2011 angelaufene konsekutive Masterstudiengang (Informationswissenschaften, M.A.) greift genau diese Perspektive in einer der beiden Spezialisierungen explizit auf. Zu der Frage welchen Stellenwert Information im gesellschaftlichen Umgang miteinander hat, gehört deshalb neben dem „Information Seeking Behaviour“ (inkl. IR!) auch das allgemeine „Information Behaviour“ gerade ohne Zuhilfenahme formaler Systeme – z.B. über menschliche oder sozio-technische Netzwerke [3]. Hierzu gehört auch die Untersuchung, mit welchen Mitteln die richtige (d.h. bewertete) Information an wen vermittelt, transferiert [4] werden kann, womit wir nahe an die Medienwissenschaft [5] herankommen, aber auch an Fragen des Interface Design rücken und uns mit Informationsvisualisierung (Tufte) und letztlich sogar wieder mit Logik [6] und vielleicht sogar mit Ontologie im philosophischen Sinn beschäftigen müssen.
  • die zweite Kautele, die ich bei der allgemeinen Zustimmung der Aussage von Libreas hinzufügen möchte, ist, dass auch das in den gleichen Topf geworfene „Dokumentenparadigma“ (wie das IR-Paradigma) nicht sofort ganz mit dem Bade ausgeschüttet werden sollte. Die Re-Dokumentarisierung der Welt [7] und die neue Debatte um die Dokumentwissenschaft [8] sind der Hinweis darauf, dass wir nach einer Phase der Technikeuphorie seit den 1970er Jahren („Bibliotheken sind spezielle Informationseinrichtungen“) uns vielleicht doch wieder auf Erreichtes aus der alten Diskussion um Bibliographie und Dokumentation (FID, Otlet, La Fontaine, Briet)  zurückbesinnen sollten. Die Debatte um das Dokument ist so wichtig wie nie, sie wurde aber damals noch nicht beendet, weil wir zu viel mit der Technik selbst zu tun hatten. Der aktuelle Versuch – ganz im Sinne von Otlet, La Fontaine und (!) Dewey – die Welt komplett zu erschließen (jetzt über verlinkte Ontologien), sollte zu denken geben, ob nicht gerade bei diesen „alten Zöpfen“ wieder angesetzt werden sollte – zumindest bevor man sie abschneidet. Das Dokumentenparadigma ist andererseits in der Praxis so lebendig wie nie zuvor: hier sei nur an den relativ neuen Zweig der Archivwissenschaft, dem Records Management, oder an Fragen des Dokumentenmanagements, des Information Life Cycle Management der Betriebswirtschaft mit dem ungelösten Problem der Digitalen Langzeitarchivierung erinnert. (Auch hierfür bereitet der Potsdamer Master den wissenschaftlich, akademischen Karriereweg…)

Dank an Ben Kaden und das LIBREAS Team für die hoffentlich anregende Debatte.

 

[1] In meinen Rezensionen zu Ingwersen, Peter; Järvelin, Kalervo: The turn: integration of information seeking and retrieval in context, Dordrecht u.a.: Springer, 2005. (Kluwer international series on information retrieval)  (In: Bibliothek. Forschung und Praxis, 31,1 (2007), 90-91.) sowie zu Theories of information behavior. Ed. by Fisher, Karen E.; Erdelez, Sanda; McKechnie, Lynne. Information Today. Medford, NJ 2005. XXII, 431 S. (ASIST monograph series). ISBN 1-573-87230-X (In: Bibliothek. Forschung und Praxis, 34 (2010), S. 303-304).

[2]  Acquired Internet Bashing Syndrom (Piazzi, Tina, and Stefan M. Seydel. Die Form der Unruhe. 2.Bde., Hamburg: Junius, 2009).

[3] ob hierbei die ANT „Actor-Network-Theory“ von Bruno Latour helfen wird bleibt noch näher zu hinterfragen. Einen Ansatz zur Verbindung von Mikro und Makro-Perspektive bietet die Theorie der Information Worlds von Jaeger und Burnett (2010), die sich hierbei auf Habermas und Chatman stützen. Vgl.: Jaeger, Paul T.; Burnett, Gary (2010): Information Worlds: Social Context, Technology, and Information Behavior in the Age of the Internet. New York: Routledge, 2010.

[4] . z.B. im Sinne der jungen Transferwissenschaft, vgl. Wichter, Sigurd; Antos, Gerd: Wissenstransfer zwischen Experten und Laien: Umriss einer Transferwissenschaft. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2001.

[5] Dank an R. Capurro für den Hinweis auf die Mediologie von Régis Debray!

[6] aber im Sinne einer polykontexturalen Logik s.: Günther, Gotthard: Das Bewusstsein der Maschinen: eine Metaphysik der Kybernetik ; mit einem Beitrag aus dem Nachlass: „Erkennen und Wollen“. Baden-Baden: Agis-Verl, 2002. Vgl. Joachim Paul: Trans. Reflexionen über Menschen, Medien, Netze und Maschinen. Berlin: ePubli / Edition Das Labor, 2013.

[7] Pédauques, Roger T.: La redocumentarisation du monde. Toulousse: Cépaduès-éditions, 2007.

[8] vgl. Lund, Niels Windfeld (2009): Document Theory. In: Blaise Cronin (Hg.): Annual Review of Information Science and Technology. Medford, N.J: Information Today (43), S. 399–432.

 

Vom Output zum Outcome – auch bei der Retrievalforschung!

Kalervo Järvelin: Keynote auf der ISI2011

Kalervo Järvelin: Keynote auf der ISI2011

Der Keynotevortrag von Kalervo Järvelin mit dem Titel „Information Retrieval: Technology, Evaluation and Beyond“ auf der diesjährigen ISI-Tagung in Hildesheim (dem „Internationalen Symposium der Informationswissenschaft„) war ein Plädoyer für eine Erneuerung der Informationswissenschaft, so wie er es mit Peter Ingwersen zusammen in „The Turn“ schon 2005 ausführlich dargelegt hatte. Er selbst spricht hier vom Öffnen der Büchse der Pandora, weil die Informationswissenschaft damit das ruhige Terrain des Cranfield-Modells der Retrievalforschung verlassen muss und sich endlich dem Kontext des informationssuchenden Nutzers – also der Realität – widmen sollte: und die ist eben sehr viel komplexer als abgeschlossene, experimentelle Modelle. Schwerwiegender noch: sein Vorwurf an die IR-Forschung, selbst im abgeschlossenen Zirkel der Recall/Precision-Test-Experimente keine Analyse leitende Theorie gehabt zu haben – nur begrenzte Modelle. Dies wäre wissenschaftstheoretisch in den Naturwissenschaften undenkbar.

Leider ist im sehr schönen Tagungsband der ISI2011 der Vortrag von Järvelin noch nicht enthalten, so dass man auf das Video von der Tagung zurückgreifen muss (kann).

What you don't see is what you don't understand

What you don't see is what you don't understand

Hier ein paar Screenshots: „Wydsiwydu“ What you don’t see ist what you don’t understand: IR Forscher sind wie Blinde, die einen Elephanten ertasten, sich aber keine Vorstellung machen können, von dem, was das ist, was sie da in den Händen halten: der Vorwurf, die Informationswissenschaft weiß gar nicht, was Informationssuche ist, da sie die reale Welt der aufgabenbezogenen Informationsarbeit nicht ins Blickfeld nimmt.

IR ohne Theorie: nur Modelle im Detail

IR ohne Theorie: nur Modelle im Detail

Information Retrieval-Forschung hat viele Modelle im Detail der ingenieurmäßigen Realisierung von Suchmaschinen, aber keine Theorie darüber, wie die Maschine im realen Leben funktionieren soll. Das wäre so, als ob die Automobilindustrie nur den Moter baut und weder Sitze noch Lenkrad vorsieht.

Das Cranfield Paradigma: ohne Nutzer und Kontext

Das Cranfield Paradigma: ohne Nutzer und Kontext

Information Retrieval-Forschung (immer noch fast ausschließlich nach dem Cranfield-Paradigma arbeitend) sieht nur den reinen Dokumentationskreislauf und „übersieht“ den Kontext in dem nach Informationen gesucht wird: die Aufgaben- und Weltbezogenheit des Informationsnutzers.

In Hildesheim gab es relativ wenig Diskussion nach dem Vortrag, obwohl Järvelin schon befürchtet hatte, dass mit Tomaten und Bananen nach ihm geworfen würde. Ich denke, das Problem ist in der Tat die Büchse der Pandora. Wir müssen uns nach dem Turn mit „Dingen“ beschäftigen, die bisher im „Information Engineering“ gar nicht im Blickfeld waren und die auch naturgemäß von den Personen, die in diesem Feld tätig sind, gar nicht wirklich eingeschätzt werden können. Der einzige Kommentator des Vortags aus dem Publikum gestand denn auch, dass er nicht vom Fach sei und dass er erstaunt sei, dass immer noch über „Nutzerorientierung“ gesprochen werden muss.

Aber wie im Bibliothekswesen, wo in den letzten Jahren die Forderung, das Controlling von Output-Kennzahlen auf Outcome- und Impact-Indikatoren umzustellen, auf viel Unverständnis (und Unvermögen) stieß, so ist es im aktuellen Diskurs in dieser/n Domäne(n) nicht möglich, das was der Büchse der Pandora entweicht zu verstehen bzw. wissenschaftlich zu kontollieren. Vielleicht wird es zunehmend wichtiger, Diskurse und Analysen des Informationsbegriffes wie sie Peter Janich oder Rafael Capurro vorlegen zu verfolgen und zu verstehen… (Vgl. das Interview mit Capurro in der letzten IWP.)

Ich war persönlich wegen meines Skiunfalls nicht in Hildesheim, konnte aber über Twitter recht viel von der Atmosphäre mitbekommen. Bei Facebook gibt es auch einige Photos von der Tagung, u.a. ein Photo von mir als ich via Skype die Konferenz für 2013 nach Potsdam einlade (Stay tuned: #isi2011 -> #isi2013).