Digitalisierungsschub: der Kopf allein genügt nicht

Screenshot der digitalen Leere

Alle sind so begeistert! Es hat geklappt. Sogar die Oma kann jetzt Skypen und Zoomen bei Jitsi…

Endlich müssen wir nicht mehr täglich zur Arbeit fahren und können Home-Office. Wie produktiv!

Mehr Zeit für eigene produktive Arbeit während der Sitzungen. Geht alles so schnell und problemlos.

Nur 20% der Studierenden klagen über schlechte Verbindungen oder haben kein Internet, kein PC oder keine Webcam oder kein Geld oder keine psychische Energie für das plötzliche Abenteuer Digitalität. Nur 20%? Ich würde vermuten, dass wir fast die Hälfte der Studierenden in unserem tollen Digitalsemester verloren haben. Woran mache ich das fest? Ich habe noch nie so oft wie in diesem Semester erlebt, dass ich Dinge, die ich gesagt oder geschrieben habe, ob inhaltlicher oder organisatorischer Art, mehr als dreimal wiederholen musste. Und das obwohl ich eine dreifache Redundanz in meinen Seminaren „gefahren“ habe: fast alle meiner Seminare waren formell schriftlich (mit fachlichen Texten unterlegt), hatten mehrere asynchrone Elemente wie aufgezeichnete Videovorträge meines üblichen Seminar-Inputs, die Anforderung der zeitversetzten Seminar-Diskussion in Moodle-Foren oder auf kollaborativen Whiteboards wie Miro und fanden zum Stundenplantermin zusätzlich noch synchron in MS Teams statt – wenn auch dann nicht in voller Länge.

Wie die synchronen „Treffen“ aussahen, kann an dem Screenshot oben gesehen werden. Aus welchen Gründen auch immer, die Studierenden hatten nie ihre Kamera angeschaltet und hatten überwiegend auch kein aussagekräftigen Avatar (Photo), so dass ich das Semester über stets „vor Buchstaben“ saß. Der einzige der mir zuhörte und manchmal über meine Witze lachte, war der rechts unten im kleinen Bild. Es ist mehrfach vorgekommen, dass ich früher die Sitzung beendet habe und einzelne  Studierende dies nicht mitbekommen haben. Ich habe den bösen Eindruck, dass die dasselbe gemacht haben wie wir alle: und haben während sie „offiziell“ in der Sitzung angemeldet waren, ganz was anderes gemacht.

In Gesprächen in kleineren Gruppen wurde mir auch angedeutet (bzw. auch sehr konkret geschildert), dass die aktuelle Studiensituation so belastend ist, dass eine Mitarbeit oder Konzentration nicht möglich ist. Einzelne Studierende aber auch Mitarbeiter sind völlig von der Bildfläche – nicht nur im konkreten Sinne der Videotelefonie – verschwunden.

Ich teile also nicht die allgemeine Euphorie, dass die Hochschulen das Digitalsemester so gut geschafft hätten. Einzelne Dozenten sind tatsächlich in der Digitalität aufgewacht (mit sehr tatkräftiger Unterstützung unseres neuen E-Learning Teams. Prima!). Aber m.E. viele Studierende haben es nicht geschafft, physisch, psychisch oder von den Lernergebnissen her mitzukommen. Ausnahmen bestätigen die Regel: diejenigen, die wie einige der Masterstudierenden mit hoher Lese- und Selbstlernmotivation dabei waren, haben auch die Phase der Isolation positiv nutzen können – vorausgesetzt die materiellen Bedingen waren akzeptabel: was dann manchmal an der dann doch eingeschalteten Kamera deutlich wurde. (Oh Datenschutz und visuelle Vorurteile der Bildschirmhintergründe!)

Interessanterweise ist die Erfahrung, dass Hochschullehre nur per Videokonferenz nicht gut geht, schon vor 20 Jahren von Rainer Kuhlen beschrieben worden in seinem Projektbericht mit dem schönen Titel: „Der Kopf allein ist zu wenig“ [1]. Man bedenke, dass im Sommersemester 2020 selbst der Kopf nicht da war. Also weniger als wenig.

Wie in allen Zusammenhängen im Hochschulbereich werden nur diejenigen befragt „die noch da sind“. Das erklärt z.B. den vergleichsweise guten Notendurchschnitt, weil diejenigen, die „schlecht“ sind oder keine guten Lernergebnisse verspüren (z.B. durch mangelndes Feedback), sowieso nicht mehr dabei sind. So wird es sicher auch im Fall des Digitalsemesters sein. Deshalb kommen auch m.E. bei den vielen aktuellen Befragungen zum genialen Erfolg der Digitalsemester an den Hochschulen immer nur die positiven Ergebnisse der Studierenden heraus, die tatsächlich noch dabei und überhaupt erreichbar waren.

Zwei Punkte, die ich konkret als Ursache für geringere Bildungsergebnisse befürchte (die sich aber nicht explizit messen lassen): der Anteil der „impliziten“ Kommunikation beim Wissenstransfer wird erheblich unterschätzt. Der Kopf allein, bzw. die explizite Äusserung im Audiokanal reicht nicht. Auch weil Kommunikation und Wissenstransfer immer interaktiv ist. Ohne informationsreiche Feedbackkanäle kann auch der Sender*In seine Botschaft nicht mehr so anpassen, dass sie ankommt. Normalerweise spürt der Dozent im Seminarraum, ob das Gesagte ankommt, es sind multiple Reaktionskanäle offen: Gesichter, Gestik, Mimik, Körperhaltungen, Gruppenverhalten, die eine Stimmung des gemeinsamen Flow vermitteln mit dem der/die Dozent den Wissenstransfer und den Lernprozess anpassen kann. Selbst wenn alle auf dem Videokonferenzssystem ihre Kameras angeschaltet haben, ist der Rückkanal extrem eingeschränkt, weil es dem Sender*In nicht möglich ist, die ganze Gruppe zu interpretieren. Schon das Verstehen der Reaktion auf einem einzigen der kleinen Kamerabilder erfordert mehr Interpretationsleistung als das Verstehen einer Vielzahl von Gesichtern/Körpern in einem Seminarraum. Das sind aber eigentlich kommunikationswissenschaftliche Gemeinplätze, die ich im Grunde vor 40 Jahren im Studium und in über 30 Jahre Lehre gelernt habe.

Das andere Problem ist vielleicht nicht so offensichtlich, aber dann doch seit über 2000 Jahren bekannt. Der topologische Charakter von Information hätte Bernard Stiegler gesagt, oder  Cicero und die alten Griechen, wenn sie für die Mnemotechnik die Verräumlichung der zu memorisierenden Information empfehlen. Wir haben das ganze Semester am gleichen Ort gesessen, haben die Gesprächspartner kaum verorten können und es gab keine Variation der Kommunikationssituation, wie dies bei unterschiedlichen Seminarräumen der Fall gewesen wäre. Nicht ganz ohne Grund wird in der Didaktik vom „Raum als dritten Pädagogen“ gesprochen. Der Mensch lernt nicht einfach nur Fakten wie eine Datenbank, sondern stellt vor allem Bezüge her: Vernetzungen der Synapsen, die durch das gesamte Gehirn gehen und manchmal sogar noch tiefer. Einfach nur Input war Nürnberger Trichter… Aber auch das ist schon eher alt. Aber warum glauben immer noch so viele daran?

Der Mensch kommuniziert nicht nur auf der technisch vermittelbaren, expliziten Inhaltsebene, sondern ist ein körperliches in einen räumlichen Kontext eingebundenes Wesen, das zu einem wesentlichen Teil soziales Wesen (in Ko-Präsenz) ist. Das ist nicht nur philosophisches Allgemeinwissen, sondern vor allem intuitiv jedem sofort persönlich einleuchtend (m.E.). Oder man kennt es vielleicht von Saint-Exupérys kleinem Prinzen: „man sieht nur mit dem Herzen gut“. Mich erschreckt, wie sehr der sakrale Digitalisierungs-Imperativ [2] hier in der Hochschullehre durchgeschlagen hat. Man kann (darf) nur den Erfolg des Digitalen feiern. Alles andere ist Häresie!

Ehrlich gesagt: für mich ist SARS Cov2 eher ein Agent des Neoliberalismus. Zwecks Verdichtung bzw. Verdreifachung der Arbeit.

 

Hinweise:

[1] Kuhlen, Rainer (2000): Der Kopf allein ist zu wenig. Mündliche Prüfungen der Desktop-Videokonferenzsysteme an Hochschulen. In: Nachrichten für Dokumentation (nfd) 51, S. 217–222.

[2] Henningsen, Erik; Larsen, Håkon (2020): The Digitalization Imperative. Sacralization of Techology in LAM Policies. In: Ragnar Audunson, Herbjørn Andresen, Cicilie Fagerlid, Erik Henningsen, Hans-Christoph Hobohm, Henrik Jochumsen et al. (Hg.): Libraries, archives and museums as democratic spaces in a digital age. Berlin: De Gruyter Saur, in Vorber.