Ein Brief an die Informationswissenschaft

Nassehi, Armin: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft.  München: C.H.Beck, 2019. 352 S. – Hardcover, EUR 26,-, ISBN 978 3 406 74024 4

Das Buch des „wohl einflussreichsten deutschen Soziologen“ (Verlagswerbung), erschien am 28. August. Schon in den folgenden Wochen war es auf allen Feuilleton Seiten und in vielen Sachbuch Bestsellerlisten. Der Verlag vermeldet sehr bald eine zweite Auflage „Aufgrund der großen Nachfrage “ (pers. Mitteilung des Verlags). Es scheint also ziemlich den Nerv der Zeit zu treffen, die nach etlichen alarmistischen Beschreibungen der Digitalen Transformation wie der von Yuval Harari (Homo Deus), jetzt doch von einem Gesellschaftsexperten erklärt bekommen möchte, was es mit der aktuellen Computerrevolution nun so auf sich hat. 

Auf über 350 Seiten wird der Leser behutsam durch eine komplexe soziologische Argumentation geführt, die auch nachvollziehbar bleibt, wenn man Armin Nassehis vorhergehenden Bücher nicht kennt. Aufmerksam werden konnte man auf den auch immer wieder in den Medien präsenten Münchner Soziologen spätestens 2015 mit seinem Buch: „Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss“, indem sich schon einige Argumente andeuten, die jetzt umfassend zusammengesetzt werden. Seine Gesellschaftsanalysen z.B. zur Migration oder zum Sterben sind immer recht praxisnah und machen deutlich, dass soziologische Theorie lebensnahe Konsequenzen haben kann. Ältere Insider kennen ihn als Herausgeber und häufigen Autor des „Kursbuchs“. Er ist jedoch auch als Vertreter des Systemtheorie Niklas Luhmanns bekannt, was den einen oder anderen von der Lektüre abschrecken könnte.  Im Vergleich zu dem ebenfalls systemtheoretischen Soziologen Dirk Baecker ist er jedoch weit weniger formalistisch und versucht auch andere Positionen einzubeziehen.

Bei dem Buch „Muster“ handelt es sich um eine klassische soziologische Theorieabhandlung, wie der Untertitel schon deutlich macht. Umso erstaunlicher ist der schnelle Verkaufserfolg. Die Nachweise im Anmerkungsapparat sind ausführlich, allerdings gibt es kein zusammenfassendes Literaturverzeichnis welches deutlicher machen würde, wo sich das Buch verortet. Es bezieht sich naturgemäß auf viele aktuelle Debatten zur Digitalisierung, aber auch auf Klassiker der Soziologie wie eben Niklas Luhmann, Max Weber oder auf Philosophen wie Edmund Husserl, Ernst Cassirer oder Martin Heidegger oder auf Poststrukturalisten wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Bruno Latour um nur wenige seiner Diskurse deutlich zu machen. Das ausführliche Sach- und Personenregister – im Zeitalter des digitalen E-Books etwas anachronistisch – zeigt wie breit die Palette seiner Argumentation ist. Das sollte jedoch nicht abschrecken – eher im Gegenteil. Nassehi weiß um seine Öffentlichkeitswirksamkeit und um die Komplexität seiner Argumentation und bietet deshalb dem Leser immer wieder gute und anschauliche Einstiege in die unterschiedlichen Theorieansätze, die er verbindet, sei es Fritz Heiders Form/Medium Unterscheidung, Ernst Cassirers Technikphilosophie, Martin Heideggers „Ge-Stell“-Ontologie oder Jacques Derridas différance. Auch die Systemtheorie bleibt dem uneingeweihten Leser einigermaßen verständlich, obwohl sie die gedankliche Grundlage der Argumentation darstellt. Dem Leser wird immer wieder – manchmal etwas plakativ – der Gang der Argumentation erläutert. 

Ausgangspunkt ist für Nassehi nicht die Frage, was die Digitalisierung mit uns macht, warum sie eventuell gefährlich ist und wie sie zu bekämpfen sei. Er stellt sich eher die Frage, warum es sie gibt, warum sie so erfolgreich sein kann und für welches (gesellschaftliche) Problem sie eine Lösung darstellt. Sehr knapp und der Subtilität der Gedankenführung nicht gerecht werdend, kann man als Antworten darauf herausfiltern, dass Nassehi die Thesen vertritt, dass die Digitalisierung die „dritte Entdeckung der Gesellschaft“ ist, eine „Verdoppelung der Gesellschaft“ in der Datenwelt bewirkt und deshalb nun das goldene Zeitalter der Soziologie anbrechen könnte, weil endlich die Instrumente der Sozialforschung allumfassend wirken und die Soziologen ihre Beobachterposition im gesellschaftlichen System besser definieren können. Der letzte Punkt beinhaltet allerdings philosophische Voraussetzungen, die nicht jeder auf Anhieb wird teilen können und die deshalb eine solch ausführliche Begründung erfordern. Auch wenn man der phänomenologischen, systemtheoretischen und poststrukturalistischen Heranführung an die Möglichkeit einer gesellschaftlichen, mit dem Problem der teilnehmenden Beobachtung behafteten Analyse nicht folgt, so lohnt sich doch die ausführliche Lektüre aller Kapitel und Argumentationsschritte.  

So werden zunächst die Grundüberlegung der „Entdeckungen der Gesellschaft“ und ihrer „Verdoppelung“ beschrieben. Das Digitale ist für Nassehi die Basis der Moderne und zwar als „zählende“ (=digitale) Beobachtung der Gesellschaft durch sie selbst. Die Entdeckung der statistischen Erfassbarkeit der Gesellschaft geht einher mit der Entwicklung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert (Nassehi erinnert dabei nicht an Jacquard und Hollerith wie es in den Informationswissenschaften üblich wäre). Die stets weitere Perfektionierung der Selbstbeobachtung der Gesellschaft führt „folgerichtig“ zur „dritten Entdeckung der Gesellschaft“ – nach der ersten funktionalen Ausdifferenzierung des feudalen Oben-Unten Schemas nach der französischen Revolution und der Politisierung der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Nassehis berühmtes Stichwort aus seinem Buch „Gab es 1968?“). 

Schon die Entwicklung der Schrift und vor allem die des Buchdrucks ermöglichten eine „Verdoppelung“ gesellschaftlicher Gegebenheiten, die so zu weiterer Verbreitung, Analyse und Neuinterpretation zur Verfügung stehen. Das gesellschaftskritische Moment des Buchdrucks (Verbreitung und Lektüre der Bibel in anderen sozialen Kreisen als dem Klerus) ist hierbei das exemplarische Beispiel für die Wirkkraft einer medialen Verdoppelung von Gesellschaft und den Effekt ihrer Selbstentdeckung. Dabei bilden die Medien (vom Buch über das Fernsehen bis zum Internet) nicht einfach nur die Realität ab, sondern erzeugen eben neue. Für die Datenwelt gilt dies in besonderem, ganz grundsätzlichem Maße.

Luhmann beschreibt „symbolisch generalisierte Medien“ – Geld, Macht, Liebe – als binär codiert:: man hat sie oder nicht. Die Digitalität zeigt damit in ihrem medialen (binären) Kern auf diese Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft. Sie verdeutlicht einerseits das Grundprinzip systemisch, menschlicher Kommunikation und verabsolutiert es. Ihre Einfachheit (0,1) gepaart mit der damit einhergehenden unendlichen Kombinierbarkeit macht sie selbst zu einem Luhmannschen Medium, das ähnlich wie z.B. Geld in der Ökonomie für die Gesellschaft grenzenloses Wachstum und ungebremste Komplexitätssteigerung zur Folge hat. 

  

Nassehi sieht in und nach dem digitalen Zeitalter keine „nächste Gesellschaft“ wie Dirk Baecker, argumentiert aber doch immer wieder mit dem Vergleich zur gesellschaftlichen Informationskatastrophe durch die Einführung des Buchdrucks. Dass es sich bei der Digitalisierung ebenfalls um eine Informationskatastrophe handelt, ist für Nassehi ausgemacht. Seine These ist aber, dass diese anders als bei der Einführung von Schrift und Buchdruck nicht zu funktionalen Änderungen der Gesellschaftsform führen wird, sondern nur zu einer Erhöhung ihrer Sichtbarkeit durch den soziologischen Analysten. Sein wichtigstes Argument ist, dass aktuelle alarmistische Analysen der Digitalisierung als gesellschaftliche Katastrophe wie bei Steffen Mau oder Cathy O’Neil zu deskriptiv bleiben und jenseits der Kritik des kontrollierenden Zählens durch Digitaltechnik nicht den Kern der Sache treffen. Auch die eher auf die Verselbstständigung des Algorithmus abzielenden Analysen von Nick Bostrom, Dirk Helbing oder Yuval Harari kritisiert er als unzureichende, populäre Katastrophenszenarien. Er wirft sogar den klassischen medientheoretischen Analysen des Digitalen von Jacques Derrida, Friedrich Kittler über Sibylle Krämer bis hin zu Bruno Latour vor, die „gesellschaftsstrukturelle Radikalität“ der Digitalisierung nicht wahrnehmen zu können. Mit Felix Stalder sieht er zwar den Beginn der Digitalisierung der Gesellschaft ebenfalls in der Frühzeit der Moderne. Anders als dieser sieht er aber nicht nur eine quantitative Entwicklung, sondern den qualitativen Umschwung der „Entdeckung von Gesellschaft“ in den jeweiligen medialen Digitaliserungsschüben als grundlegend. 

So einleuchtend seine These von der Verdoppelung der Gesellschaft durch das Digitale anfangs ist, so künstlich erscheint sie im Fortgang der Argumentation, wenn er auf die „Zeichenparadoxie“ der Semiotik kommt, derzufolge Signifikant und Signifikat in einer steten wechselseitigen Operation des Bezuges zur Realität diese nie wirklich treffen. Hier argumentiert er mit der strukturalistischen Linguistik Ferdinand de Saussures und bezieht sich wiederholt auf dessen poststrukturalistische Weiterentwicklung durch Jacques Derrida. Deren Verbindung mit der von Nassehi vertretenen Systemtheorie Niklas Luhmanns erstaunt den nicht-soziologischen Beobachter etwas. Doch der Übergang zu Gregory Batesons Diktum „the difference that makes the difference“ als eine der Urszenen der Diskussion um den Informationsbegriff liefert dann wiederum dem Informationswissenschaftler den entscheidenden Anknüpfungspunkt. Diese Argumentationskette zeigt aber gleichzeitig die Lücke der vorliegenden Theorie der digitalen Gesellschaft. Es wird immer wieder über Begrifflichkeiten wie Daten und Digitalität gesprochen, ohne dass auf die langjährigen konzeptuellen Diskurse der Informationswissenschaft Bezug genommen wird. „Daten“ werden immer mal als das „Gegebene“ (lat. datum) und das Digitale als das „Zählende“ angesprochen. Manchmal wird auch nicht ganz deutlich zwischen Daten und Information unterschieden und die Charakterisierung von Information nimmt mehrfach den Ausgangspunkt bei der wahrscheinlichkeitstheoretischen Informationstheorie Claude Shannons, ohne auf Warren Weavers Warnung einzugehen, Semantik und Pragmatik würden bei ihrer „mathematischen Theorie der Kommunikation“ noch fehlen. Nassehis im Titel besonders aufscheinende epistemologische Grundthese, nach der Kategorien (Typisierungen, Muster…) gebildet werden müssen, um die Welt zu erkennen, hätte sicher durch die in der Informationswissenschaft breit rezipierten Diskussionen zur Entstehung von Semantik und Klassifikation gewonnen, zumal z.B. Geoffrey C. Bowker und Susan Leigh Star ebenfalls mit Activity Theory und Bruno Latour argumentieren. Interessanterweise hebt Nassehi auch bei dem Bild der Verdoppelung nicht auf die bei Informationswissenschaftlern oft anzutreffende Drei-Welten These von Karl Popper ab, obwohl er letztlich immer wieder semiotisch argumentiert. Könnte nicht Poppers dritte Welt der mentalen Artefakte diese Verdoppelung darstellen? Wieweit die Systemtheorie doch tatsächlich von der „Social Epistemology“ der Bibliothekswissenschaft (Jesse Sheras) entfernt ist! 

Die Tatsache, dass nach Nassehi die Digitalisierung, d.h. die Vermessung der Welt in ihrem binären Kern angekommen ist und sich damit ihre Potentiale ins Unbegrenzte erhöhen, begründet m.E. auch noch nicht, dass als einzige Konsequenz daraus die Stärkung der Beobachterposition (der Soziologie) folgen sollte. Wenn Nassehi von einer dritten Entdeckung der Gesellschaft durch durch Big Data und Digitalisierung spricht, so bleibt er doch die Antwort schuldig, warum es jetzt nicht wie bei den beiden anderen „Entdeckungen“ zu prinzipiellen Veränderungen kommen sollte. Er behauptet, dass es keine weiteren funktionalen Änderungen in der Gesellschaft mehr geben könne – höchstens eine weitere Ausdifferenzierung der Funktionen. Er übersieht dabei m.E. dass die erste Entdeckung der Gesellschaft mit dem Beginn der Moderne mehr war als nur das Aufbrechen des feudalen oben/unten in Funktionsbereiche, und dass die zweite auch wieder mehr war als eine weitere funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Man könnte sogar sagen, dass die emanzipatorische Politisierung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade die funktionale Differenzierung in Frage stellt. Bezeichnenderweise führt Nassehi selber hier die poststrukturalistische Feministin Donna Haraway als Zeugin an. Die Debatten um die Auflösung überkommener Kategorien wie Mann/Frau zeugen von einem qualitativen Umschwung den Nassehi in Abgrenzung zu Baecker und Stalder ja selber postuliert.    

Bei der Frage nach historischen Periodisierungen fallen dem Nicht-Soziologen schließlich nicht nur die „Nächste Gesellschaft“ Baeckers oder Luciano Floridis vierte Revolution und die vierte Kränkung der Menschheit mit Turing ein, sondern vor allem das vierte Paradigma der Wissenschaft, das Jim Gray und Tony Hey postulierten (nach der reinen empirischen Beobachtung, der Theorie geleiteten und dann die Computer basierte, rechnende Wissenschaft – jetzt die rein Daten getriebene, messend explorierende „eScience“, wie man 2007 noch sagte). Vielleicht muss der Soziologe den Blick nicht nur nach Innen, in den binären Kern des Digitalen richten, sondern auch darüber hinaus doch eher die naturwissenschaftliche Frage nach der Information im gesamten System der Welt selber stellen. Mit allen seinen eigenen Argumentationsschritten könnte man sogar einen weiteren, evolutionären Bogen spannen von der Entstehung von Information (vor Artefakten und auch vor der „Sprache“) bis hin zu der informationellen Beobachtung der Umwelt des Menschen. So hat in der Tat das dritte Wissenschaftsparadigma in Form des Club of Rome mit seinen Computersimulationen in den 1970er Jahren vielleicht nicht so viel bewirkt wie die komplette synchrone Vermessung des Klimawandels in der aktuellen Zeit. Genauso wenig hat sicher die klassische empirische Sozialforschung des 20. Jahrhunderts tatsächlich bewirkt. Die reale life-Vermessung der sozialen (und natürlichen) Welt zeitigt zumindest im Ökonomischen und Politischen teilweise jetzt schon außerordentliche Potentiale für gänzlich neue Realität und Entdeckungen der Welt. Die neuen Möglichkeiten der Digitalität bieten mit Sicherheit nicht nur für die Soziologie als Disziplin eine Chance, sondern vielleicht sogar für das Ökosystem Planet Erde als Ganzes. Es fehlt lediglich der Einbau „interner Stoppregeln“ in die mannigfaltigen gesellschaftlichen Prozesse, wie Nassehi selbst sagt. Vielleicht verstehe ich die Systemtheorie falsch, aber woher könnten solche Ankerpunkte kommen, wenn nicht von außen – von außerhalb des Gesellschaftssystems? Den Soziologen als das Außen zu postulieren ist verständlich von einem Soziologen, aber vielleicht doch wenig hilfreich. Aber auch hier liegt m.E. eine Chance: das Projekt der Digitalisierung ist vorwiegend das eines „kybernetischen Kontrollüberschusses“. Ähnlich wie bei der Informationskatastrophe bei der Einführung des Buchdrucks sollten und werden sich gesellschaftliche Bearbeitungspraktiken für das System ergeben (analog zur Einführung von flächendeckender Bildung und der Verbreitung der Alphabetisierung), die den Sinn-/Kontroll-Überschuss kanalisieren helfen im Gesamtzusammenhang des dann nicht mehr nur gesellschaftlichen Systems. Doch soweit geht Nassehi eben nicht.

Sofern einen die der Systemtheorie eigene Dezentrierung des Menschen nicht stört, ist „Muster“ deshalb auch für die Informationswissenschaft ein überaus empfehlenswertes und hoffentlich für die aktuellen gesellschaftlichen Debatten als Ganzes fruchtbares Buch. Es liest sich wie ein langer Brief an die Informationswissenschaft, die davon viel profitieren kann.   

Der Beitrag erschien in leicht modifizierter Form in Open Password – Freitag, den 11. Oktober #642