Jean-François Lyotard – doch noch lesen, jetzt erst recht

Gert Scobel empfiehlt Lyotard bei 3sat (5.8.2021)

„Warum Mainstream Theorien am Ende sind – Postmoderne | Gert Scobel.“ so lautet die Ankündigung der 3sat/ZDF-Sendung bei YouTube. Der eigentliche Titel: „Jean-François Lyotard – Vordenker der Postmoderne“ erscheint nur in der 3sat Mediathek selber. Ich wäre also beinahe der obskuren YouTube Empfehlung nicht gefolgt.  

In meinen Literaturlisten in Vorlesungen und Seminaren ist schon immer die „Condition Postmoderne“ [1] als besondere und wichtige Lektüreempfehlung zu finden als lesbare Einführung zur Frage der gesellschaftlichen Entwicklung der sog. Informationsgesellschaft. Auf deutsch erscheint der Titel noch einschlägiger: „Das postmoderne Wissen„. Im Laufe der Zeit – das klassische Thema „Informationsgesellschaft“ ist ja eigentlich von „Digitalität“ [2] abgelöst – und die Analysen von Bell, Drucker und eben auch Lyotard erscheinen „so 1970er“, dass ich diese immer mehr mit ungutem Gefühl und damit immer weniger thematisiere in meinen Lehrveranstaltungen.

Das könnte sich nun dank Gert Scobel ändern. Ich folge ihn sonst nicht so sehr. Er gibt in seinem kurzen Video einen beindruckend präzisen Einblick in die Denkweise des französischen Philosophen Jean-François Lyotard, der schon in meiner Pariser Zeit für mich eine Art Idol war, das ich aber mich nicht traute, offen zu vertreten, weil eben der Mainstream mit den Poststrukturalisten offensichtlich ein enormes Problem hat(te). Das ging ja sogar soweit, dass Kritiker dieser französischen Denkrichtungen ihnen vorwarfen, durch ihren „Relativismus“ die Unsicherheiten und Probleme in unserer komplexer werdenden Welt verursacht zu haben (und eben nicht nur zu analysieren).

Scobel erklärt „Das postmoderne Wissen„, diese Auftragsarbeit Lyotards für die kanadische Regierung zur Frage der Informationsgesellschaft, präzise und knapp und macht Lust, das Büchlein nochmal zu lesen. Er hebt vor allem hervor, wie sehr Lyotard schon Visionär war und immer noch vieles erklären kann, was wir heute erleben.

Aber noch viel wichtiger ist der ausführliche Kommentar zum Hauptwerk Lyotards: „Der Widerstreit„[3], das Scobel als das wichtigste philosophische Buch der letzten 50 Jahre bezeichnet und das er immer wieder und wieder liest… Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass das Buch in meinem Regal recht jungfräulich vergilbt ist. Es war mir zu kompliziert auch schon in der Aufmachung als Sammlung von nummerierten Kurzpassagen, wie man es z.B. auch bei Nietzsche antrifft. Ein Autor, den uns Scobel übrigens ebenfalls zur Gegenwartsanalyse empfiehlt.

Ich will und kann hier nicht die brillante Vorstellung der Aktualität Lyotards durch Scobel wiederholen. Ich möchte lediglich durch meinen Blogpost hier darauf hinweisen, wie wichtig tatsächlich Lyotard auch im informationswissenschaftlichen Diskurs sein kann und möchte die Sendung allen an Fragen der Digitalität Interessierten wärmstens an Herz legen. Schon allein das kurze Video gibt erhellende Denkanregungen.

Außerdem möchte ich Gert Scobel danken, dafür, dass er hilft den nun schon sehr lang andauernden Paradigmenwechsel weiter zu treiben und mit seiner medialen Präsenz Mut macht, so verrückte Autoren wie Foucault, Derrida, Stiegler, etc. weiter zu lesen, um zu verstehen, was in unserer Zeit mit uns passiert.

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[1] Lyotard, Jean François (1979): La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris: Minuit.

[2] Stalder, Felix (2018): The Digital Condition. Newark: Polity Press. (dt.: Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 2679).)

[3] Lyotard, Jean François (1983): Le Différend. Paris: Minuit. (dt.: Lyotard, Jean-François (1987): Der Widerstreit, übers. von Joseph Vogl. München: Fink (Supplemente, 6).) (man beachte den Übersetzer!)