Digitalität in der Krise

Tweet aus Marrakesh

Eine „interessante“ Erfahrung, vom Auswärtigen Amt aus dem Urlaub evakuiert zu werden. Lange bevor uns unsere Reiseagentur informierte, erschien in der App der Fluggesellschaft die Information, dass der Flug annulliert worden sei. Eine direkte Push-Information kam nie. Später erfuhren wir, dass schon über eine Woche vor unserem Rückflug bekannt war, dass Marokko den Luftraum gesperrt hatte und vor allem von und nach Deutschland keine regulären Flüge mehr durchkamen.

Auf den Seiten des Auswärtigen Amtes wurde zunächst beruhigt und empfohlen, sich bei „Elefand“ einzutragen: einem Webdienst für „Deutsche im Ausland“. Aber schon kurze Zeit später wurde deutlich, dass der Elefant überlastet war: er war nur noch mit Mühen zu erreichen. Dazu gab es dann die Information auf der Website der Botschaft, man solle sich per E-Mail melden.

Elektroische Erfassung von Deutschen im Ausland (Krisenvorsorgeliste)

In der Tat gab es per Mail dann auch eine sehr freundliche Reaktion mit der Bitte, die gleichen Daten noch einmal anzugeben, die schon bei Elefand abgefragt worden waren.

In der Zwischenzeit hatte sich eine WhatsAapp-Gruppe „Gestrandete in Marokko“ gebildet, in die aufgenommen zu werden, nur über kreative Kontakte in Deutschland möglich war. Die Gruppengrößenbegrenzung in WhatsApp führte jedoch dazu, dass eine entsprechende Gruppe bei Telegram gebildet wurde, wo es keine so strikte Gruppenbegrenzung gibt. Nur: es galt zunächst die Telegram-App auf dem Smartphone zu installieren bei einem begrenzten Online Datenzugriff. Beide Gruppen wurde initiiert und ziemlich professionell moderiert von „Michi“, der es schließlich auch war, der sogar recht physisch die Evakuierungsaktion am Flughafen in Marrakesh organisierte, obwohl er nichts mit der Botschaft zu tun hatte.

Dank an unseren marokkanischen Guide „Moussa“, der bis zum Schluss mit uns am Flughafen ausgeharrt hat

Unsere Reiseorganisation meldete sich erst kurz vor dem nicht stattfindenden offiziellen Abflugtermin und empfahl, doch selbstständig zum Flughafen zu fahren und „nach Flügen Ausschau zu halten“. Ja, die gab es auch, allerdings vorwiegend in andere Länder. Nur Ryanair bot noch Flüge an zunächst nach Frankfurt Hahn (kurze Zeit später auch gecancelt) und eine längere Zeit im Angebot nach Nürnberg. Außerdem konnte man tatsächlich noch einige Zeit Flüge mit Lufthansa buchen. Aus der Not haben wir mit Ryanair und Lufthansa Flüge gebucht und bezahlt, nur um dann zu erfahren, dass die Flüge jeweils annulliert worden seien und wir sehr gerne umbuchen könnten (vielleicht auch später…). Die ärgerlichen Buchungsdetails würden hier zu weit führen – weit über 1000,-€ sind jedenfalls bisher nicht erstattet worden, abgesehen von dem annullierten eigentlichen Flug, der ja auch bezahlt war und der staatliche Rückholflug, dessen Rechnung noch aussteht.

Telegram Kanal für gestrandete Deutsche in Marokko (später aufgenommen)

Die „Krisenvorsorgeliste“ Elefand schien nach einiger Zeit zu funktionieren, denn über Telegram verbreitete sich die Nachricht, dass von den ca. 3.000 bis 4.000 in Marokko gestrandeten Deutschen schon ein paar angerufen worden waren mit der Bitte, sich zum Flughafen zu begeben. Allerdings schienen die eingegebenen Metadaten nicht gut zu funktionieren, denn in Elefand konnte nur „Region Marrakesh“ angegeben werden und das folgende eigentliche Adressfeld war nicht (datenbanktechnisch gesprochen) ausreichend normalisiert, so dass hierüber keine sinnvolle Abfrage gemacht werden konnte. So wurden Personen auch aus weiter entfernten Orten gebeten, sich „in der nächsten Stunde“ am Flughafen einzufinden.

Schnell merkte wohl die Botschaft, vielleicht auch mit einem mathematischen Überschlag, dass 4000 Telefonate à ca. 2 bis 3 Minuten bei der vorhandenen Personaldecke nicht zu bewältigen waren. Ich kann nicht sagen, dass es sich hier wirklich um eine Kausalkette handelt, jedenfalls war die nächste Aktion, die von der deutschen Botschaft in Marokko ausging, eine Videobotschaft, seiner Exzellenz des Botschafters persönlich – über Facebook. Die beruhenden Worte: „alle werden ausgeflogen“ erreichten jedoch mit Sicherheit nicht die, die die Beruhigung am nötigsten gehabt hätten wie z.B. Ältere oder Kranke, da zumindest am Flughafen das WLAN zusammen gebrochen war. Und wer schaut sich schon gemütlich ein mehrminütiges Video bei begrenztem Datenvolumen an. Eine konkrete schriftliche Information (in Textform) auf der Website ließ lange auf sich warten.

Gedränge am Flughafen Marrakesh

Als dann klar wurde, dass es doch von der Botschaft organisierte Heimkehrerflüge gab (es war für uns praktisch der dritte Tag am Flughafen), wurde pauschal gesagt, man solle sich „pünktlich“ zu einem bestimmten Zeitpunkt am Flughafen einfinden: alle würden ausgeflogen. Mit einigem Erstaunen blickten dann drei Botschaftsmitarbeiter in die Menschenmenge und mussten konsultieren, dass die „Macht des Faktischen“ eben dies verhindern würde. Es gäbe nur zwei Maschinen mit Plätzen, die höchstens für ein Fünftel der Anwesenden reichen würden. Es wurden DIN A 4 Zettel ausgeteilt, um die Ausreisewilligen zu erfassen. Hier sollte jeder erneut die gleichen Daten eintragen, wie schon in Elefand bzw. per Mail. Das gleiche Formular wurde später dann noch im Flugzeug ausgeteilt, so dass nun vier mal die gleichen Datensätze vorhanden sind. Dabei wurde auch stets versichert, dass man die Rückholaktion auch selber bezahlen muss.

ungenutzte Papierdatenbank am Schalter der Botschaft

Auch die am Flughafen ausgeteilten Zettel mit ihren seriellen Daten kamen nicht zum Einsatz: die Passagierlisten der Rückholflüge wurden schließlich händisch so gefüllt, dass derjenige, der am lautesten erklären konnte, alt und gebrechlich zu sein, an den improvisierten Schalter kam und zum Abholen einer Boardingkarte eingetragen wurde. (Perfiderweise exakt für den Lufthansaflug, den wir bezahlt hatten, aber nun nicht mehr wahrnehmen konnten, weil Heiko Maaß dieses Flugzeug (mit gleicher Flugnummer) für die Gestrandeten gebucht hatte.)

Kriseninformationsmanagement: hier ist der Treffpunkt für die Rückholaktion

In allen Fällen, zeigte sich für mich, dass digitale (und auch serielle) Datenverarbeitung nicht funktionierte. Das einzige, was wirklich wirkte, war recht analoge Ellenbogenaktivität.

Auch wurde ja so oft gesagt, die Krise erzeuge Solidarität! Es war ein äusserst deprimierendes Bild, was sich vor dem Schalter der Botschaftsmitarbeiter bot. Die Botschaftsmitarbeiter hatten zunächst vergessen, ein Megafon mit zubringen, so dass für die Menge, das was gesagt wurde, akustisch verstärkt werden musste von „Relais-Sprechern“. Derjenige, der sich am meisten engagierte und schließlich den Botschaftsangehörigen sogar in der nächsten Nacht half, die DIN A 4 Zettel zu sortieren, war der „Michi“, der auch in den Social Media so aktiv war (und noch ist). Ohne ihn wäre es zu wirklichem Hauen und Stechen gekommen oder die Aktion wäre vielleicht sogar ganz gescheitert. Deprimierend unsolidarisch zeigte sich der „Mob“ vor dem Schalter, als Michi immer wieder lautstark forderte, man solle doch zurückweichen, damit die, die es am nötigsten hätten, an den Schalter kämen: wer Platz machte, wurde dann nur von folgenden überrannt…

Die drei von der Botschaft und der freiwillige Held

Michi (im Photo rechts) war tatsächlich der letzte, der vom Flughafen Marrakesh ausgeflogen wurde.

Mit dem Boarding Pass der Rückholaktion konnten wir dann (am 20.3.20) mit einem Nachtzug der Bahn von Frankfurt nach Potsdam fahren. In den folgenden 14 Tagen Selbstisolation (wegen des Flughafens) wurde uns dann erst die Lage in Deutschland bewusst und die Nerven doppelt belastet. Allerdings mussten wir auch feststellen, dass wir ziemliches Glück gehabt hatten, dass der marokkanische König Mohammed der VI. so schnell und Marokko als erstes Land so rigoros agiert hat. Sonst würden wir wie ein Kollege von uns noch immer festsitzen (er besuchte gerade seinen Sohn im Erasmus Aufenthalt in Lima, Peru) .