Interview zur digitalen Lage (10. IT Gipfel, diverse „Strategiepapiere“, Wahlen etc.)

UdL DigitalPassend zur aktuellen Diskussion um die Auswirkungen der Digitalen Transformation auf die urban/rural-Spaltung habe ich ein längeres Interview gegeben für „Unter den Linden Digital„, das Digital Public Affairs Blog der Telefonica Deutschland.

Das Interview fand vor den US-Wahlen statt. Sonst hätte ich wahrscheinlich viel drastischer formuliert. Konkreter Anlass war der 10. Nationale IT Gipfel, der in den nächsten Tagen in Saarbrücken stattfindet sowie die Initiative der Bundesbildungsministerin Prof. Wanka zu einem „DigitalPakt#D“. Ein weiterer Anknüpfungspunkt, der sich leider auch erst nach dem Interview ergab ist die Digital-Strategie des Landes Brandenburg, die gestern im Brandenburgischen Landtag verabschiedet wurde. Zu der ich ähnlich wie in dem Interview Stellung nehmen würde.

Der Landtag stellt fest: Die Digitalisierung verändert unsere ganze Gesellschaft ….

Hier die ursprüngliche Fassung des Interviews (im Prinzip LOCKSS). Besser gestaltet und weiter bearbeitet ist jedoch die veröffentlichte Fassung.

Interviewreihe zur digitalen Bildung – Bildung 4.0

Fragen an Prof. Dr. Hans-Christoph Hobohm

Herr Professor Hobohm, die Bundesbildungsministerin hat mit dem DigitalPakt#Dein Programm mit fünf Milliarden Euro zur Investition in die digitale Infrastruktur von Schulen angekündigt. Josef Kraus, der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, möchte das Geld lieber in die Schulbibliotheken stecken. Wie sehen Sie das?

Als Bibliothekswissenschaftler kann (muss) ich Herrn Kraus nur zustimmen. Allerdings fällt meine Antwort dann doch anders als erwartet aus: der Ort der digitalen Infrastruktur ist die Bibliothek. So wie manche Staaten in den USA die Print-Schulbücher abschaffen, ist die Bibliothek grundsätzlich nicht mehr der Ort der Papier-Bücher, sondern der Ort der Begegnung mit Wissen ganz unterschiedlicher Art. Garanten dafür sind jedoch nicht die Technologien, sondern die Menschen, die die Infrastruktur betreiben und den Zugang dazu bereit stellen. Technik und Infrastruktur bedarf des Menschen nicht nur als Nutzer, sondern auch als Vermittler. Das ist das Grundprinzip von Infrastruktur.

Es müsste also m.E. in mindestens dem gleichen Umfang in Personal investiert werden, z.B.  mit der Schaffung von Posten wie dem professeur-documentaliste in Frankreich, der als den Lehrern gleichwertiger Partner das „Centre de Documentation et d’Information“ wie dort die Schulbibliothek genannt werden, betreibt. Hier sammeln sich die digitalen Kompetenzen, die notwendig sind, um den digitalen Wandel auch im Bildungswesen zu meistern. Einfach nur Hardware irgendwo hinzupacken genügt nicht, wie eine Reihe von Vorgängerprogrammen wie „Schulen ans Netz“ oder „Internet in Bibliotheken“ gezeigt haben.

Kurz: die Bibliothek ist (nicht nur in der Schule) der Ort der digitalen Kompetenz mit dem Angebot technischer Infrastruktur und mit den persönlichen Vermittlungs- und Orientierungskompetenzen, in die vor allem investiert werden muss.

Was müssen Schüler Ihrer Meinung nach in der Schule lernen, um gut gerüstet für die Digitalisierung zu sein? 

Ich glaube kaum, dass die Jugend in Deutschland Unterricht in Medientechnik braucht. Das lässt sich sehr schön an internationalen Vergleichsstudien wie der ICILS-Studie (International Computer and Information Literacy Study, dem PISA Test in Computerkenntnissen) belegen, bei der deutsche Schüler auch ohne jegliche schulische Unterstützung ziemlich gut (=“im Mittelfeld“) abschneiden in Computerkompetenz.

Gerade von der Hardware-Seite scheinen deutsche Schüler, wahrscheinlich durch ihr international vergleichsweise reiches Elternhaus, sehr gut gerüstet zu sein. Was die ICILS Studie aber auch zeigt, ist, dass die pädagogische Begleitung des Wegs in die digitale Welt durch die Lehrer in Deutschland deutlich fehlt: die Schüler sind also allein gelassen in der neuen Welt, in der sich ihre Eltern natürlich ebenfalls nicht zurecht finden.

Und die Probleme sind nicht die viel diskutierten wie Cybermobbing, Spielesucht oder konkrete Gefahren durch in ihre Welt eindringende pädophile Erwachsene. Es ist vielmehr ein genuin informationswissenschaftliches: der Mensch neigt zu einer prinzipiellen Fehleinschätzung der ihm zur Verfügung stehenden Informationsquellen. Die Bewertung des Wahrheitsgehalts und der notwendigen Menge an Informationen ist in der digitalen Welt der Informationsflut ganz besonders schwierig geworden. Phänomene wie die Post-Wahrheitsgesellschaft oder die Postdemokratie lassen sich zu großen Teilen genau auf diese informationswissenschaftlich gut belegbaren Probleme menschlichen Informationsverhaltens zurückführen.

Gelernt, geübt und diskutiert werden muss also in der Schule viel mehr kritische Reflexion und der Wandel der Zivilgesellschaft. Und das kann nicht nur der Deutschlehrer nicht nur nebenbei. Die Schule ist schon längst keine Wissensvermittlungsanstalt mehr.

Man gewinnt den Eindruck, dass Deutschland in puncto digitaler Bildung derzeit noch ein Flickenteppich ist. Sind Sie mit der bisherigen Entwicklung zufrieden? Was muss Ihrer Meinung nach noch besser werden?

Zufrieden? Ich bin eher frustriert nach langen Jahren der Beobachtung und des Engagements als Informationswissenschaftler. Nicht nur der Blick in die ICILS-Studie zeigt, dass ein fundamentaler Mentalitätswandel immer notwendiger geworden ist, und eben nicht mehr die Jagd hinter der computertechnischen Beschleunigung unserer Geräte her – von IT Gipfel zu IT Gipfel. Bisher läuft in Deutschland Digitale Bildung vorwiegend als medientechnische Bildung: d.h. Training im Umgang mit der neuesten Hardware und den neuesten Tools: etwa „Wie mache ich Handy-Filme“, „Wie nutze ich Instagram“, „Wie werde ich YouTube Star“ etc.

Besser werden muss vor allem das Verständnis darüber, dass das Digitale eine unser Leben bestimmende Infrastruktur ist. Und jeder etwas wirtschaftlich Bewanderte weiß, dass man Infrastrukturen nicht allein der Privatwirtschaft überlassen sollte – vor allem wenn sie so lebenszentral sind wie diese. Und nicht nur die Wirtschaft hängt in starkem Maße von Infrastruktur ab. Insofern geht der nun auf die Schulen gerichtete Blick sehr wohl in die richtige Richtung. Er zeigt aber auch, dass hier eher bundesweite, sachverständige Initiativen notwendig sind, als dass dies der einzelnen Schule überlassen werden kann. Dazu  läuft die Digitale Transformation zu schnell und zu radikal.

Auch der vor einiger Zeit eingerichtete nationale „Rat für Informationsinfrastruktur“ ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist ein Gremium, dass ähnlich wie der Wissenschaftsrat Empfehlungen aussprechen kann, die den Wandel Deutschlands in die Digitale Welt in diesem Sinn positiv begleiten könnte. Dazu müsste dieser aber sich zunächst dieser gesellschaftlich tiefgehenden – bei der Jugend beginnenden – Verantwortung bewusst werden, was bisher nicht der Fall zu sein scheint.

Medienbildung und digitale Bildung sind inzwischen Bestandteil vieler Lehrpläne. Laut dem aktuellen Bericht des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) gilt das allerdings nicht für die Lehrerbildung und das Lehramtsstudium, wo dieses Thema offenbar deutschlandweit noch immer vernachlässigt wird. Wie kann dieser Missstand behoben werden?

Recht konkret kann ich mir nur vorstellen, dass entsprechend dieses tiefgreifenden Wandels auch nur tiefwirkende Lösungen sinnvoll sind. Computer-Technik ist wie gesagt nur die Oberfläche. Ich stelle mir vor allem neue Berufsbilder vor, die im Sinne der gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen auch speziell auf diese „neuen“ Herausforderungen reagieren können. Hier könnte man z.B. wie in Frankreich einen neuen „Lehrertyp“ schaffen, der auf pädagogisch hohem Niveau das Informations- und Medienzentrum der Schule betreut und gleichzeitig darauf achtet, dass Informationskompetenz im oben beschriebenen Sinn in der Schule verbreitet wird – mit eigenen Fächern oder im Co-Teaching in ganz verschiednen Fächerkombinationen. Die „Deutsche Gesellschaft für Information und Wissen“ (DGI) fordert die Einführung von Informationskompetenzunterricht an Schulen schon seit langem.

Dies darf aber nicht innerhalb der Mauern der Schule bleiben. Wir wissen mittlerweile wie viel wichtiger informelles Lernen ist, also im Alltag und am sog. „Dritten Ort“ zwischen Schule und Elternhaus. Hier fällt den Stadtbibliotheken, die ja oft mit Schulen kooperieren, eine äusserst verantwortungsvolle Aufgabe zu, die sie mit ihren immer geringer werdenden Bordmitteln ja auch schon sehr gut erfüllen. Internationale Beispiele wie die Jugendbibliotheken Biblo Tøyen in Oslo oder Kirjasto10 in Helsinki zeigen wie es geht. Es handelt sich um eine Herausforderung der ganzen zivilgesellschaftlichen Gemeinschaft, wie wir sie z.B. mit dem an der FH Potsdam gerade gestarteten Masterstudiengang „Urbane Zukunft“ adressieren. Hier ist z.B. auch das Berufsbild des „Community Change Agents“ vorstellbar, der gerade auch in kleineren Städten zwischen Schulen, der Bibliothek und anderen kulturellen Einrichtungen vor Ort vermittelnd, den digitalen Wandel begleitet. Ein Ermöglicher und Moderator des Digitalen und eben keine Maschine.

In welchen Bereichen steht Deutschland bei der digitalen Bildung Ihrer Meinung nach besonders gut da? Und wo gibt es die größten Defizite?

Die Verbreitung neuester Informationstechnik ist in den meisten Familien und bei den Jugendlichen in den letzten Jahren gut voran geschritten, wie ich persönlich bei meinen Studierenden gut beobachten kann. Sorgen mache ich mir in der Tat, dass wir ähnlich wie bei PISA doch die sozial Schwächeren auf der Strecke lassen. Letztlich kann sich eben doch nicht jede Familie Smartphones für jedes Kind leisten. Von daher geht die Initiative des DigitalPakts sicher in die richtige Richtung. Aber wie gesagt: das Entscheidende an Information und IT ist immer noch der Mensch. Die größte Sorge bereitet mir deshalb, dass wir zunehmend übersehen, dass die Erhöhung der Menge and Bits & Bytes nicht ersetzt, dass Menschen zu ihrem Wohle damit umgehen müssen. Wir stehen insgesamt vielleicht gut da bei der Verbreitung der Medientechnik, aber es fehlt deutlich an Informationskompetenz – auf allen Ebenen!

Am 16. und 17. November findet in Saarbrücken der 10. Nationale IT-Gipfel mit dem Schwerpunkt digitale Bildung statt. Welches Signal sollte Ihrer Meinung nach vom Gipfel ausgehen?

Selbst große Unternehmen haben mittlerweile verstanden, dass die Organisationskultur, also die Frage der „weichen“ Werte, des sozialen Miteinander und des Wissenskapitals der entscheidende Wettbewerbsfaktor ist. Der IT Gipfel sollte meines Erachtens im Sinne der gesamten Gesellschaft aufhören, nur betriebswirtschaftlich für einzelne Wirtschaftspartner im Hardwarebereich zu denken, sondern eher volkswirtschaftlich für das große Ganze. Das ist langfristig nachhaltiger.

Das heißt, von Saarbrücken muss ein Klimawandel ausgehen, der deutlich macht, dass das Digitale ohne Informationskompetenz in der breiten Bevölkerung – und in der Politik – gefährlich ist. [Nachtrag: „wie man bei aktuellen politischen Ereignissen recht gut beobachten kann…“]

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zur Person:

Hans-Christoph Hobohm ist Professor für Bibliothekswissenschaft an der Fachhochschule Potsdam und Leiter des dortigen Master-Studiengangs Informationswissenschaften

Seine aktuelle Forschungsgebiete sind Informationsverhaltensforschung bzw. die Rolle der Bibliothek in der urbanen Zivilgesellschaft.

Er ist u.a. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Instituts für internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt/M.

Seine aktuelle Publikation ist die Herausgeberschaft der Übersetzung von: David Lankes: Erwarten Sie mehr. Verlangen Sie bessere Bibliotheken für eine komplexer gewordene Welt. Berlin: Simon Verlag, erscheint im Herbst 2016