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Informationsüberlastung: ein Problem des sozialen Systems, nicht des technischen

Auf der Web2.0 Expo 2008 in New York gab es einen beeindruckenden 20 minütigen Vortrag von Clay Shirky („Here comes everybody“) zu der Frage, wie es zu Informationsflut kommt und was das mit dem Ende der Gutenberg Galaxis zu tun hat. Der Hinweis darauf erschien gerade mal wieder bei Twitter und ich glaube der Vortrag ist immer noch aktuell. Es geht u.a. darum, dass das Thema Informationsflut immer noch ein Vorwand bzw. eine Entschuldigung für viele Aktivitäten wie Presseartikel und Bücher ist (!). So beugt auch er sich darüber und weist darauf hin, dass es in der Gutenberg Galaxis immer einen Qualitätsfilter vor der Publikation gab: den Verleger, der das Risiko der Produktion und Vorfinanzierung (daher der Name: „Vorlegen“) übernahm.

Die Tatsache, dass Informationen stets kontinuierlich zunehmen, erfordert, dass wir uns stets aufs neue darum kümmern – als Person. Mit unseren eigenen Filtern. „Privatheit“ ist die Frage der Auswahl, wer welche Informationen erhält. Das Problem ist, dass wir gerade dabei von einem persönlichen zu einem Ingenieur-gesteuerten System der Privatheit übergehen. Er berichtet hier von interessanten Beispielen aus Facebook. Mit der Schlussfolgerung, dass das Phänomen Facebook mit keiner Metapher der alten Welt – um damit auch nicht mit existierenden Metadaten – erklärt werden kann. Nicht der Code ist das Problem, sondern das menschliche Unvermögen, die neuen Systembrüche zu verstehen. Es ist kein Design-Problem, sondern ein „mental shift„. Niemand wird z.B. die Hochschule und ihre Lerngewohnheiten neu „codieren“ können.

Zum information overload, der vielleicht für uns Menschen doch eher so etwas ist wie das Wasser für die Fische, sagt Clay Shirky: „If you have the same problem over a long time, may be it is not a problem may be it is a fact.“ Früher hat man versucht, das Problem an der Quelle zu lösen, durch die Qualitätskontrolle vor der Publikation. Das ist prinzipiell nicht mehr möglich im Internet: hier haben sich die Filter, die Institutionen (wie z.B. das Phänomen der Privatheit) geändert. Gänzlich neue Filter müssten geschaffen werden. Es hilft nicht, die alten an der Oberfläche zu reparieren, sie sind aus strukturellen Gründen zerbrochen. Manches wird zwar weiterhin über Programmierung – vor allem „post-kategorialer“ Art – abgefangen werden können, aber wichtiger noch ist das Überdenken sozialer Normen. Wenn in der Informationsflut etwas beginnt zu stören, muss man sich nicht fragen, was mit der Informations falsch ist, sondern, welcher Filter gerade nicht mehr funktioniert.

Nun: meine Antwort liegt auf der Hand. Es ist das Versagen der nationalen und lokalen Informations- und Bildungsinfrastrukturen, der Bibliotheken, Informationseinrichtungen und auch der Archive. Und vor allem: der Ruf nach mehr Informatikern ist – wie Clay Shirky implizit an mehreren Stellen sagt – bestimmt nicht die Lösung.

Der zweite Aspekt, den er nur am Anfang kurz erwähnt, ist, dass es früher zur Informationsfilterung auch Personen (oder Institutionen) gab, die Verantwortung, d.h. Risiko übernommen haben, Informations- und Bildungsprodukte auf einem Markt zu platzieren, der ihnen dafür eine Gegenleistung erbrachte. Beides (Riskobereitschaft und Risikobelohnung) scheint es nicht mehr zu geben. Das könnte ein Hinweis darauf sein, welche sozialen Normen besonders beleuchtet werden sollten: nämlich die ökonomischen.

Payback: perfekte Vermarktung in der alten Welt

Informationsflut oder Logorhroe

Schön, dass sich jemand dieses Themas (Informationsentropie) annimmt. Frank Schirrmacher zeigt uns gleichzeitig, wie Informations- und Kommunikationsmedien (vor allem die klassischen) funktionieren. Und produziert selber Informationsfluten, denn er beherrscht die Klaviatur perfekt. Und darf in allen (wirklich allen: sogar in „Bild“ wird er abgedruckt) sein Buch bewerben. Man muss dabei eben wissen, dass er Chef des Feuilletons der FAZ ist: er als Person ist eine Institution in unserer Rest-Gelehrtenrepublik. Und er schreibt gerne solche Bücher, die sich gut verkaufen. Trotzdem sind mir andere medienwissenschaftliche Reißer wie Neil Postman oder Richard Sennett um einiges lieber.

Dazu gibt es heute eine fast erfrischende Rezension im Berliner Tagesspiegel:

„Payback“ ist das Buch eines Journalisten, der im Angesicht seiner eigenen Überforderung durch den information overload von Internet und Handy in konsequenter Ich-Perspektive dem Leser erklären will, „warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen“. Das Ganze ist im vollen Bewusstsein, dass jedes maschinenstürmerische Ansinnen nur lächerlich wäre, halb kulturkritisches Pamphlet, halb Ratgeber: in der Fülle des ausgebreiteten Materials immer anregend, mit leichter, gedanklich allerdings oft fahriger Hand geschrieben und in der Verengung des Horizonts auf die unmittelbare Gegenwart legitim.

Frank Schirrmacher beschreibt den historischen Wendepunkt, den er in den sich verselbstständigenden Informationstechnologien sieht, mit einer Dringlichkeit, die das bisher nur vage Empfundene begrifflich klar zu konturieren versucht – auch wenn die Klagen über Zerstreuung und Überreizung älter sind als das Netz. Mit Recht fürchtet er ein Lesen, das ins maschinelle Gelesenwerden umschlägt, ein Denken, das uns denkt: den Übergang von Selbstbestimmung zu Fremdbestimmung.

Ob der Rezensent (Gregor Dotzauer) mit seiner Kritik das Buch wirklich treffend beschreibt, werde ich nicht beurteilen können, denn ich werde es nicht lesen, werde ich ggf. bei Living Social in einer Kurzrezension berichten. Ich habe mich doch überreden lassen, es zu kaufen und muss gestehen, dass die Lektüre faszinierend ist. (Nachtrag Jan. 2010)

Vielmehr bringt es mich erneut auf die These von Wayne Wiegand, der von den beiden blinden Flecken der Bibliothekswissenschaft sprach: dem Raum und dem Lesen. Dem Raum haben wir uns mittlerweile schon etwas gewidmet, aber wie Lesen in und mit Informationsinfrastrukturen funktioniert, ist weder erforscht noch benennbares Thema: vielmehr kann man einfach vom „maschinellen Gelesenwerden“ sprechen. Die Rede von der Informationsflut ist so alt wie die Information selbst – wenn man so sagen darf. Jedes Zeitalter hat seine Medien und seine spezifischen Informationsfluten, und jedes Mal gibt es Personen des alten Paradigmas, die den Verlust der Informationskultur ja der Welt überhaupt beklagen. Die Klage über die Informationsflut: ein Generationenproblem?

(Immer noch lesbar: Wiegand, Wayne A. (1999): Tunnel Vision and Blind Spots. What the Past Tells Us about the Present; Reflections on the Twentieth-Century History of American Librarianship. In: Library Quarterly, Jg. 69, S. 1–32.)

Nachtrag 1.2.2010: Sehr schöner Kommentar im Blog „Indiscretion Ehrensache“ von Thomas Klüver.

FH Potsdam hilft Stadtarchiv Köln: Medienreaktionen

Bild aus Archivalia

Ein Lehrstück in praktischer Medienwissenschaft ist die Reaktion auf die kleine Pressemeldung von gestern. Zunächst war die Fachbereichseite im Internet und und das Dekanat per Telefon nicht mehr zu erreichen. Dann gab es Auftrieb der Medienvertreter: Radio (RBB) , Text und Bild (MAZ) interviewten Herrn Post und mich zu unseren Hilfsaktionen.

Es wird wohl heute nachmittag auf Antenne Brandenburg und im InfoRadio des RBB gesendet. Ggf. gibt es den Podocast dazu. Märkische Allgemeine Zeitung wird morgen berichten mit Photo.

Es ist schon beeindruckend, welche Reaktionen ein konkret „fühlbarer“ Informationskollaps hervorrufen kann. Der alltägliche Kollaps von Informations-, Bildungs- und Wissensstrukturen ruft bewirkt ja leider nicht so viel. Selbst wenn Wirtschaftsweise gravierende Zahlen warnend veröffentlichen: Deutschland erst auf Platz 15 der internationalen Innovationsskala im Bildungsbereich – trotz des Hypes aller Innovationsförderung. Tendenz fallend. Es fehlen eben die Grundstrukturen des Wissens, das zu Innovation führen kann. Diesen täglichen Einsturz sieht kaum jemand. Es muss erst so symbolische Einstürze geben wie in Weimar und Köln. Dass der Konjunktureinbruch in Amerika auch in Deutschland zu einem Ansturm auf die Bibliotheken führt, ist wohl kaum zu erwarten, weil das deutsche Bibliothekswesen ja schon am Boden liegt.

vgl. letzten Blogeintrag hier.

Stadtarchiv Köln: FH Potsdam hilft

Bild: AdHocNews

Pressemeldung der FH Potsdam: (aus dem Web0.0 bzw. 1.0)

Studierende der Fachhochschule Potsdam helfen bei Sicherung der bedrohten Kölner Archivalien

Studierende des Fachbereichs Informationswissenschaften der Fachhochschule Potsdam werden in den kommenden Tagen in Köln bei der Rettung der Archivalien des eingestürzten Stadtarchivs behilflich sein. Trotz Semesterferien folgten 30 Studierende umgehend dem Aufruf von Dr. Karin Schwarz, Professorenstellvertreterin im Fachbereich Informationswissenschaften. Zwölf von ihnen werden jetzt nach Köln fahren und die geborgenen Archivalien sichten, sortieren und die entstandenen Schäden feststellen. Sie werden in einem Dreischichtbetrieb rund um die Uhr gemeinsam mit anderen Archivaren und Auszubildenden arbeiten.

Die Archivalien werden von der Einsturzstelle in größere Hallen in Köln transportiert und dort von zahlreichen fachlich versierten Kräften begutachtet. Durchnässte Archivalien lassen sich mittels Gefriertrocknung sichern, andere müssen von Staub befreit werden, manche sind durch die Aufbewahrung in Archivkartons beinahe unversehrt. Es muss jedoch auch mit zerrissenen und zerknüllten Schriftstücken gerechnet werden, deren Zusammenhänge die Studierenden wiederherstellen können.

Der Einsturz des Stadtarchivs Köln hat unter den Lehrenden und Studierenden der Fachhochschule Potsdam persönliche Betroffenheit und Entsetzen ausgelöst. „Wir sind erleichtert darüber, dass zwei Absolventen der FH Potsdam, die im Historischen Archiv der Stadt Köln arbeiten, unversehrt blieben. Aber unsere Trauer und Anteilnahme gilt den Angehörigen des Toten und des Vermissten“, erklärt Prof. Dr. Hans-Christoph Hobohm, Dekan des Fachbereichs Informationswissenschaften. „Umso mehr hofft der Fachbereich“, so Hobohm weiter, „mit seiner Initiative zur Rettung der Kölner Stadtgeschichte, zur Bewahrung einmaliger, unersetzbarer Dokumente beitragen zu können.“

Ansprechpartnerin für weitergehende Informationen ist Dr. Karin Schwarz (Tel: 0331 580-1528 bzw. E-Mail: ›schwarz(AT)fh-potsdam.de).

In der Presse am 10.3.: Ad Hoc News, am 11.3.: dpa/Potsdamer Neueste Nachrichten S.8 print-Version, Märkische Allgemeine Zeitung.

vgl. auch die Beiträge in diesen Blog am 8.3., am 6.3., am 4.3..

Köln: Heimsuchung von biblischem Ausmaß

Bild: Stadt Köln/Feuerwehr

In der Financial Times Deutschland ist heute zu lesen, dass einer der zwei Vermissten Jugendlichen tot geborgen wurde.

In der Fortsetzung des Textes wird Michael Knoche (via dpa) zitiert:

Für Michael Knoche, Direktor der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, ist der Verlust des Archivguts in Köln eine „Heimsuchung von biblischem Ausmaß“. Es sei nach dem Elbe-Hochwasser in Dresden und dem Brand seiner Bibliothek innerhalb weniger Jahre ein neuer dramatischer Verlust unserer nationaler Überlieferung, sagte Knoche in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Ich habe so das Gefühl, dass die Öffentlichkeit die Katastrophe zwar wahrnimmt, aber noch nicht die Dimension.“ Das Unglück sei um ein vielfaches Größer als in Weimar.

Ich kenne Michael Knoche ganz gut (war einer seiner Studenten an der Uni Köln) und schätze ihn als jemanden, der sehr realistisch bleibt und normalerweise nicht zu Übertreibungen neigt. Wenn das Zitat stimmt macht dies tatsächlich bedenklich…