ASIS&T Annual Meeting 2014

Seattle

Seattle City Center – with Public Library squeezed between skyscrapers

Es ist immer schwierig, von einer großen internationalen Tagung zu berichten. Ja: „International“, denn die „American Association of Information Science and Technologie“ führte in Seattle vom 31.10.-5.11.2014 ihre erste Konferenz unter ihrem neuen Namen „Association for Information Science and Technology“ durch, den die Europäerin Diane Sonnenwald in ihrer Amtszeit als Präsidentin von ASIS&T dem Verband hatte geben lassen.

Dennoch, der Besuch der Konferenz hinterlässt vor allem den Eindruck interkultureller Unterschiede: anders als bei vielen anderen Weltkonferenzen gab es keine (oder kaum) den Konferenzrhythmus markierende Veranstaltung wie eine Opening oder Closing Session oder einen Empfang bei den Offiziellen von Stadt und Land. Wie im Angloamerikanischen oft, fand die Konferenz in einem Hotel statt und bot damit die Annehmlichkeiten aber auch die Kosten einer solchen professionell gastgebenden Einbettung. So gab es zwar im Konferenzbereich freies WLAN, im Hotelzimmer war es jedoch exorbitant teuer. Kurze Wege innerhalb der Konferenz und Zentralität in der Stadt sind jedoch bei einer solchen Tagungsorganisation immer von Vorteil.   

New Leaders Meeting at ASIS&T 2014

New Leaders Meeting at ASIS&T 2014

Auch die Kultur der „Gremiensitzungen“ ist kulturell sehr speziell und vielleicht noch nicht einer internationalen Vereinigung angemessen. Bei manchen Terminen der SIGs (special interest groups) war es fast Glücksache zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Platz dabei sein zu können. Für mich war dies eine besondere Herausforderung, denn ich hatte die Teilnahme an der Konferenz als Preis erhalten „New Leadership Award 2013“ und war verpflichtet, an einigen solchen Sitzungen teilzunehmen. So nahm ich teil an einem Fokus Group Meeting Strategic Planning, den Sitzungen des International Relations Committee (IRC), der SIG Use, der SIG HFIS und der SIG Ed. Bei letzteren hatte ich das Glück/Pech zum Treasurer gewählt zu werden. Auch das „European Chapter“ traf sich, allerdings eher etwas informell in einer Bar…

Inhaltlich war die Konferenz schließlich auch stark amerikanisch – ist doch die Informationswissenschaft immer noch (?) eher amerikanisch-skandinavisch geprägt. Auch wenn man mittlerweile schon den einen oder anderen Deutschen auf diesen Tagungen trifft.

World Café result at the Symposium of SIG USE 2014

World Café result at the Symposium of SIG USE 2014

Abgesehen davon waren meine fachlichen Eindrücke stark konzentriert auf Informationsverhaltensforschung, ein Thema, zu dem es neben einem größeren Satelliten-Workshop fast durchgehend Tracks gab. Der Workshop befasst sich mit dem immer wiederkehrenden Thema des Kontextes und brachte fast 100 Interessierte zu einer regen, aktiven Arbeitssession zusammen: 14th Annual SIG/USE Research Symposium: Context in Information Behavior Research (SIG/USE). Neben Keynote und Lightning Talks gab es vor allem World Café ähnliche Tischdiskussionen, die versuchten, den State-of-Art zum Thema zusammenzutragen. Leider war dazu die Zeit recht knapp und der Wissensstand der Teilnehmenden zu heterogen. Mir zeigte es vor allem, dass wichtige Grundthemen, wie die Foucaultschen Heterotopien weit verbreitet sind, aber auch dass sich kein wirklich neuer Forschungsstand herausgebildet hat.

In den Konferenztracks der SIG USE war mein Haupteindruck, wie sehr die vorgetragenen (meist PhD-) Arbeiten empirisch und statistisch gesättigt waren. Es war eine Freude, hochkomplexe Argumentationen wie in der klassischen Sozialwissenschaft auf der Basis von Zahlen zu erleben. Allerdings muss man auch beobachten, dass viele der Analysen in der Informationsverhaltensforschung auf sehr kleinen Fallzahlen beruhen (und dennoch mit Inferenzstatistik arbeiten).

Ron Day at the panel "Informational and Media Failures and Potential Successes" ASIS&T2014

Ron Day at the panel „Informational and Media Failures and Potential Successes“ ASIS&T2014

Als ein Highlight hatte ich dieses Jahr Ron Days Vortrag nach seinem jüngst erschienenen Buch „Indexing it all“ erwartet. Er war gut platziert in dem von ihm mit John Budd organisierten Panel „Informational and Media Failures and Potential Successes“ (mit außerdem: Lai Ma und Sioban Stevenson). Das Panel war ein gutes Beispiel für praktizierte information criticism, von dem ich in meinen Seminaren immer wieder spreche. Wenn auch Ron Day hier nicht nur aus der Perspektive der klassischen Kritischen Theorie argumentiert, sondern diese mixt mit Psychoanalyse a la Jacques Lacan. Das neue Buch ist äusserst anregend und lesenswert. Ein Vortrag von Ron Day ist allerdings stets etwas gewöhnungsbedürftig – vielleicht weil er weiß, dass seine Thesen nicht der mündlichen Darstellung adäquat sind. John Budd hingegen – auch bekannt für  sophisticated stuff – konnte anschaulich darlegen, warum sich die aktuellen weltpolitischen Krisen auf Informationskrisen zurückführen lassen.

Einer der Keynote Vorträge im Plenum ging in eine ähnlich kritische Richtung allerdings als Extrapolation technologischer Trends. Alessandro Acquisti, bekannt durch seine frühen Privacy Studien, berichtete über die mittlerweile berühmt gewordene „Face Recognition“ Studie und das „Experiment on Hiring Discrimination„, bei denen in beiden Fällen drastisch dargelegt wird, dass persönliche Information und Privatheit allumfassend öffentlich im Netz präsent und identifizierbar ist, bzw. auch diskriminierend bei der Auswahl von Stellenbewerbern genutzt wird… . Seine empirisch sehr anschaulich und sauber dargelegten Argumente bestätigten die auch in anderen Vorträgen immer wieder bemühten Orwells und Huxleys auf beängstigende Weise. Er blieb jedoch „cool“: es gibt Möglichkeiten sich zu schützen.

A propos running theme: so oft wie auf dieser Konferenz tauchte noch nie die Antilope Suzanne Briets wieder auf. Nicht ohne Grund war die ASIS&T ja ursprünglich das „American Documentation Institute“.

Ein anderer Unterschied zu deutschen Tagungen: vielleicht auch fachspezifisch waren im Ausstellungsbereich relativ wenige Verlage und Informationsdienstleister: außer MIT, Emerald und Information Today waren ausschließlich die Universitäten selber präsent und machten an ihren Ständen vorwiegend Alumni-Arbeit und verteilten Give Aways. Dennoch ist die Ausstellung auch immer wieder ein Schaufenster der Buchproduktion des letzten Jahres. Es werden dann vorwiegend die (oft prämierten) Neuerscheinungen der letzten Monate gehighlightet, was dann für den Nachhauseweg oder die heimische Bibliothek interessante Lektüre bzw. Neuanschaffungen ergibt. (Mein Mitbringsel neben „Indexing it all“ war vor allem das nunmehr prämierte „The Discipline of Organizing“ von Glushko und „Scholarly metrics under the microscope“ von Blaise Cronin.)

Seattle Public Library

Seattle Public Library

Und schließlich, was wäre ein Besuch in Seattle, ohne die Public Library besichtigt zu haben? Das imposante Gebäude von Rem Koolhaas (OMA/LMN) sieht aus wie ein zusammengefaltetes Hochhaus inmitten der es umgebenden Wolkenkratzer. Die Bibliothek feiert gerade ihr 10 jähriges Bestehen in diesem Furore machende Gebäude und es sieht so aus, als ob sie so gut funktioniert wie eh und je. Mit ihren über zehn Etagen und einer erstaunlichen Vielfalt an Angeboten und unterschiedlichen Aufenthaltsbereichen geht das Konzept weit über die bekannten Photomotive hinaus – die beeindruckend genug sind, sie noch einmal hier zu platzieren. Mixing chamber (Multimediabereich), living rooms, meeting rooms, auditorium, technology training center, friendshop, book spiral (nach DDC aufgestelltes Freihandmagazin, job resource center, teen center, coffee… um nur einige der offensichtlichen Angebote der Bibliothek zu nennen.

Seattle Public Library Living Room

Seattle Public Library Living Room

Einzig die vergleichsweise begrenzten Öffnungszeiten (Mo-Do 10-20 Fr-Sa 10 bis 18, So 12-18) lassen etwas stutzen. Vielleicht sind sie darauf zurückzuführen, dass „man“ abends in einer amerikanischen Stadt vielleicht doch nicht so gerne unterwegs ist (was ich erst nach meinem Abendspaziergängen aus dem Fernsehen erfuhr…).

Alles in allem ein fruchtbarer Aufenthalt an der Westküste. Ich bin gespannt auf St Louis im November 2015. Ich fahre dorthin, nicht nur weil ich in diesem Jahr dann weiterhin Preisträger eines New Leader Awards bin, sondern weil ich fachlich auf jeden Fall profitiere und: wie die Amerikaner sagen, „to continue making friends“.