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Bildungsarmut und Humankapitalschwäche

Hinter den begrifflichen Ungetümen des Instituts der Deutschen Wirtschaft („IW“ in Köln, einem der Wirtschaftsweisen, dem man nicht nachsagen kann, dass er „links“ steht) verbirgt sich die einfache Aussage:

Für die gesamte Volkswirtschaft hat der Bildungsstand der Bevölkerung Einfluss auf ihre technologische Wettbewerbsfähigkeit und die Attraktivität für ausländische Investoren.

Die jüngst erschienene Studie spricht zwar (leider) nicht von Bibliotheken, aber dafür umso mehr von PISA und von fehlenden Büchern. Und auch davon nicht so deutlich, wie es die eigenen Zahlen aussagen. Haushalte, die als „bildungsarm“ zu qualifizieren sind, besitzen in erster Linie weniger als 25 Bücher. Der Migrationshintergrund zählt empirisch deutlich weniger. Man schaue sich die Grafik genauer an (klicken):

Beschrieben werden die Faktoren, die auf die PISA Ergebnisse in den Bereichen „Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften“ signifikanten Einfluss haben. Lediglich die Variable „Haushalt verfügt über weniger als 25 Bücher“ beeinflusst mit jeweils großem Abstand zu anderen möglichen Variablen mit weit über 40 Punten das Pisa Ergebnis in allen drei Bereichen – vor allem in den „Naturwissenschaften“ (höchste Punktzahl überhaupt). Das ist bei keiner anderen Variable der Fall! Interessant ist, dass das IW dies nicht an die Spitze der eigenen Auswertung hebt bzw. in der Pressemitteilung („Vorsorge statt Reparatur„) thematisiert. Bücher und Lesen ist für die Herren Wissenschaftler entweder etwas selbstverständliches – nicht so „hype“ – oder so verstaubt, dass man sich nicht traut, dies deutlich zu machen. Schicker ist, auf den Migrationshintergrund zu verweisen. Das ist auf der poliutischen „Agenda“. Der Migrationshintergrund (Variable: „Im Haushalt wird nicht deutsch gesprochen“) zählt zwar nicht bei „Mathematik“ (ist auch suspekt), aber dafür immer noch bei den beiden anderen.
Der Titel der Grafik „Das Umfeld macht’s“ sieht wieder so aus, als wäre hier jeder selbst schuld. Gemeint ist aber: das gesellschaftliche Umfeld und damit der Staat. Er ist für fehlende Bücher und fehlende Lesekultur (à la PISA) in den Familien verantwortlich. Dixit: Das Institut der Deutschen Wirtschaft. Lesenswert – vor allem für Politiker. Warum wissen Politiker in anderen Ländern, dass Bibliotheken Lesen und soziale Integration fördern und die Deutschen Politiker nicht?

Wirklich schade aber eben die Reformen, die das IW vorschlägt. Nix von Bibliothek2007 gehört. Und nie über den Tellerrand von Rhein, Alpen, Oder oder Ostsee geschaut.

Wiegand in LIS Radio!

Wayne Wiegand, bekannt für seine mahnenden Rufe, die eigentlichen Funktionen von Bibliotheken (‚Lesen‚ und ‚die Bibliothek als Ort‚) ernster zu nehmen, gibt ein spannendes Interview zum seinem Thema in LIS Radio (University of Missouri – Columbia »» School of Information Science and Learning Technologies) (ein paar knappe Zitate daraus):

„One of the beauties of libraries is that they are voluntary institutions“

„We haven’t got into this kind of scholarship that gives us the vocabulary to understand it.“

„These aspects are not reflected in the LIS curriculum.“

„We need more humanities research methods in LIS and not only social science methodology. … a different set of intellectual bag.“

„There are more libraries than there are McDonalds Restaurants.“

„We need a core course in our LIS curriculum which puts reading in another view – as serious reading which is not only literacy but has to do with all its social aspects of building communities. Serious reding (eg. fiction reading) as opposed to mere reading (like email-reading)“

Wirklich etwas für den mp3-player.

Der Ausgangspunkt einer ongoing debate über die blinden Flecke der Bibliothekswissenschaft: Wiegand, Wayne A.: Tunnel Vision and Blind Spots. What the Past Tells Us about the Present; Reflections on the Twentieth-Century History of American Librarianship. In: Library Quarterly, 69 (1999), 1-32.

(vgl. auch: Hobohm, Hans-Christoph: Desiderate und Felder bibliothekswissenschaftlicher Forschung. In: Bibliothekswissenschaft quo vadis? = Library Science quo vadis?  Eine Disziplin zwischen Traditionen und Visionen ; Programme Modelle Forschungsaufgaben. Mit einem Geleitwort von Guy St. Clair und einem Vorwort von Georg Ruppelt, hrsg. v. Petra Hauke, München: Saur, 2005, S. 47-64.)

Die Bibliothek 2030: InfoSphere

Auf dem in dieser Woche stattfindenden ZERO ONE Festival in San José (zusammen mit dem ISEA, International Symposium of Electronic Art), „Seven Days of Art and Interconnectivity“ …

The ZeroOne San Jose Festival will transform San Jose into the North American epicenter for the intersection of art and digital culture by showcasing the world’s most innovative contemporary artists. ZeroOne San Jose is artists making art and using technology as a tool to do so. It is not technology for technology’s sake. ZeroOne San Jose is a multi-dimensional, startling and brilliant audience event – with exhibits, live cinema, performances, workshops, and youth activities. All are one-of-a-kind, many never-before, only-here experiences. Here are some details about what you will find at ZeroOne San Jose: A Global Festival of Art on the Edge.

… wird die Bibliothek als „Kunstwerk am Rand“ gedacht in der Performance SpecFlic2.0

SPECFLIC 2.0 * Speculative Distributed Cinema
August 9, 2006 9:30pm to 12am
@ Dr. Martin Luther King, Jr. Library
150 E. San Fernando St., San Jose

Live, site-specific multimedia event written and directed by Adriene Jenik – exploring the intersection of digital media, books, and reading. SPECFLIC 2.0 portrays 2030 as a time in which audio-visual media dominate, and the next generation of students and scholars develope within this InfoSphere.

„2030. The Public Library has been incrementally transformed into the Universal Knowledge Repository known as the InfoSphere. The InfoSphere is a generally accessible, multi-lingual digital archive that expands exponentially on an hourly basis. The public accesses the InfoSphere independently of the library building, and the role of the library and librarians has shifted to accommodate these changes: local public libraries now assist people in locating the bits they need in this overwhelming the data flow. They also issue reading licenses, which are necessary to access various tiers of knowledge, and enforce information access filters.“

… in der Dr. Martin Luther King, Jr. Library, San José, einer einmaligen, prämierten Kooperation von Stadtbibliothek und Universitätbibliothek.

Die Performance findet heute abend 21:30 (Kalifornischer Zeit) statt. Bringen Sie wireless devices mit! Wer es aus Termingründen nicht mehr schaffen sollte bis nach Kalifornien, kann das Event im Live Stream bis Mitternacht verfolgen. Besonderes Augenmerk sollte man legen auf die „InfoSpherian“ (ehem Bibliothekarin):

„The InfoSpherian is the 2030 equivalent of the information/reference desk service person. Her position has been upsized to encompass several distinct functions: library docent, reading license enforcement, and navigational aid to the InfoSphere.“

Sie sieht so aus:

Aber auch die anderen Performances von ZERO ONE sind sicher sehenswert. Nichts wie hin.

Erotik der Bibliothek

In einer Glosse im Tagesspiegel berichtet Roger Boyes, Deutschlandkorrespondent von The Times von der (verlorenen) Sinnlichkeit der Bibliotheken zumindest in England. Ob das der Unterschied für den größeren Kundenzuspruch und die größere Akzeptanz (bis hin zur Finanzierung) ist/war? Verstehe einer die Briten. Es dreht sich um die Schließung der Bibliothek des British Council am Hackeschen Markt in Berlin. Ein schöner Text, der grundlegende Funktionen der Bibliothek beschreibt:

[…] Wenn der Sicherheitsbeamte einverstanden ist, kann man nach oben [in das British Council] gehen und in einer Bibliothek sitzen mit komfortablen Sesseln und keinem quiekenden Handy in Hörweite. Das war einer der wenigen inspirierenden Kapitel britischer Kulturdiplomatie. Es gibt keine weiteren Motive für eine Bibliothek: Sie ist nicht Teil einer Regierungsstrategie, um die Elite eines fremden Landes zu verführen. Sie befördert kein nationales Interesse. Eine Bibliothek ist keine Botschaft oder Kanzleramt, es ist nur ein Raum mit Büchern, der die Stille respektiert. Und am Hackeschen Markt ist Schweigen mehr als wert als Gold, Platin nämlich. All dies ist meine Art, zu sagen, dass der British Council dabei ist, die Bibliothek zu schließen, um Geld zu sparen.

Der Grund ist banal: Deutsche, die sich für Großbritannien interessieren, können ihre Informationen online bekommen. Wenn sie wirklich Bücher lesen wollen – und der moderne Kulturdiplomat findet das eher absurd, ähnlich kurios wie mit dem Stift zu schreiben – nun, dann sollen sie diese Dinge eben kaufen, lass sie zu Dussmann gehen oder Marga Schoeller, wenn sie das schon tun müssen. Chacun à son gôut.

Diese Entscheidung verkörpert alles, was an Britannien heute armselig und mittelmäßig ist; es ist nicht nur ein Rückzug vom Buch, immer noch einem der mächtigsten Übertragungsmedien von Kultur, sondern auch von der Idee, dass Menschen sich austauschen können und sollen mithilfe eines Treffens im Reich der Vorstellung.

Trotz seines bedauerlichen Finanzmanagements versteht Berlin dies auf eine Art und Weise, die dem British Council nicht zugänglich ist. Der Wiederaufbau der Staatsbibliothek ist ein wundervolles Projekt und das Design des Lesesaals von H. G. Merck – als eines rechteckigen Lichtkörpers, der über einer Raumschale schwebt – kommt einem Geniestreich nahe. Aber sogar auf bescheidenerem Niveau zeigen die Berliner, dass sie Bibliotheken zu schätzen wussten. Die DDR hat 1986 in Hohenschönhausen eine Bücherei gebaut, als der Bezirk so neu war, dass er noch nach Farbe und Beton roch. Später wurde die Anna-Seghers-Bibliothek zum Prerower Platz verlegt und wurde zum pumpenden Herz eines kämpfenden Bezirks: Fünf Millionen haben sie in den letzten 20 Jahren benutzt.

Die Engländer haben das einmal verstanden. Der Lesesaal des British Museum mit seinen ledernen Türgriffen, seinem lichtdurchfluteten Raum strömt noch immer Sinnlichkeit aus. Mit Büchern möblierte Räume haben etwas Erotisches. Einer unser triebhaftesten Poeten, Philip Larkin, war ein Universitätsbibliothekar, der seine Affären zwischen den Bücherregalen führte. Ein Lifestylemagazin für Männer erzählt mir, das die fünfthäufigste Fantasie mittelalter Briten darin besteht, einer strengen Bibliothekarin die Hornbrille abzunehmen, ihr dabei zuzusehen, wie sie ihr Haar befreit, und sie dann zu küssen.

Büchereien sind nicht nur staubige Zufluchtsorte vor der Realität – antiquierte Räume, die schnell von der Digitalisierung überflüssig gemacht werden –, sondern magische und dynamische Orte. Sogar die Bibliothek am Hackeschen Markt war für Inspiration gut: Hunderte von Berlinern haben sich dort in so genannten Lesegruppen getroffen, Buchliebhaber, die nicht nur über Bücher, sondern über Gefühle reden wollten. Nimm ein Buch aus dem Regal und beobachte, wie andere lesen. Was geht in ihren Köpfen vor? Was für eine Art von Energie wird vom Buch auf den Leser übertragen?

Es ist eine Energie, die nicht in Flaschen gefüllt oder gemessen und in einer Buchhalterkladde vermerkt werden kann. Und deshalb schließen die Bürokraten des British Council meine Oase. Wie traurig. In Zukunft werde ich versuchen, den Hackeschen Markt zu meiden.