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Heilige Kühe: Podiumsdiskussion in der KIBA Lounge 2012

Hier mein Vorabstatement zu der Podiumsdiskussion auf dem 101. Dt. Bibliothekartag (vgl. auch: Klaus Grafs Statement)


Die heilige Kuh bibliothekarische Neutralität macht uns teilnahmslos – sprachlos, erstarrt vor der vermeintlich neutralen Technik

Bibliotheken halten sich für den Garant der Objektivität in Form von Informationsfreiheit und inhaltlicher Ausgewogenheit. Außerhalb der Bibliothekswissenschaft wird deutlich thematisiert, dass jede Entscheidung der Erschließung oder des Medienerwerbs eine Stellungnahme beinhaltet, ja, dass Neutralität (oder allumfassendes allgemeingültiges Wissen) nicht möglich sind. (Lakoff; Bowker/Star)

Wenn wir uns weiterhin nicht mit gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigen und uns keine Position erarbeiten außerhalb eines vermeintlich neutralen Standpunkts als „Informationsinfrastruktur“, so laufen wir Gefahr, von Technik und Management, die wir beide so vergötzen, vereinnahmt zu werden.

Nur durch die Beschäftigung mit der Möglichkeit des gesellschaftlichen Standpunkts der Informations-, Bildungs- und Kulturarbeit können wir wirklich daran teilhaben. Dies machen uns andere Diskurse und Fachgebiete vor, die sich mittlerweile mit Information und Bibliothek intensiver beschäftigen als die Bibliothekswissenschaft.

Wir brauchen einen kritischen Diskurs jenseits der Rolle des Erfüllungsgehilfen der IT Industrie. Dazu müssen wir uns endlich der internationalen Diskussion in der Informations- und Bibliothekswissenschaft öffnen (Leckie et al. 2010) und nicht nur Systeme basteln ohne Kontext (Nutzer- und Lebenswelt-) Bezug. Durch unsere Fixierung auf die Informationschirurgie – wie Jack Andersen (2008) dies nennt – verlieren wir die Sprache, um mit anderen Domänen überhaupt noch in Kontakt treten zu können, in denen mehr inhaltliche Diskurse geführt werden: deshalb können wir uns mit unserem vielleicht berechtigten Anliegen nicht mehr verständlich machen.

Literaturhinweise:

* Andersen, Jack (2008): Information Criticism: Where is It? In Alison M. Lewis (Ed.): Questioning library neutrality. Essays from Progressive Librarian. Duluth Minn.: Library Juice Press, pp. 97-108.
* Bowker, Geoffrey C.; Star, Susan Leigh (1999): Sorting things out: classification and its consequences. Cambridge, Mass. u.a.: MIT Press.
* Lakoff, George (2008): Women, fire, and dangerous things. What categories reveal about the mind. 11th ed. Chicago: Univ. of Chicago Press.
* Leckie, Gloria J.; Given, Lisa M.; Buschman, John (Eds.) (2010): Critical theory for library and information science. Exploring the social from across the disciplines. Santa Barbara, Calif: Libraries Unlimited.

NACHTRAG: Das Video dazu gibt es auf YouTube:

Bibliothekarische Praxis fordert mehr informationswissenschaftliche Forschung!

Das ist schon interessant: die Praxis verlangt nach Forschung – als Wunsch fürs neue Jahr. Andreas Degkwitz, der neue Direktor der Universitätsbibliothek der Humboldt Universität beschreibt in einem schönen Text im heutige Tagesspiegel „Neue Zweige am Baum der Erkenntnis“ über den aktuellen Zustand der Bibliothek u.a.:

Wer erst jetzt in Bibliotheken die Netzknoten des Wissens- und Informationstransfers erkennt, dem ist entgangen, dass Bibliotheken diesen Auftrag schon immer hatten. Neu hingegen und bestimmt noch nicht abschließend gelöst ist das Problem, wie sich dieser Anspruch für digitale Medien vollständig einlösen lässt.

Degkwitz stellt die Entwicklung von Bibliotheken sehr gekonnt dar und kommt in seiner Argumentation auf die wichtigsten Punkte der informationsiwssenschaftlichen aber auch der allgemeinen gesellschaftlichen Fachdiskussion über den Zustand des Wissens. Am beindruckendsten finde ich jedoch die Schlussfolgerung:

Diese Fragen geben klar zu erkennen: Wir brauchen eine umfassende Diskussion. Wir brauchen Forschung zu den noch immer offenen Fragen, ob und, wenn ja, in welcher Weise das Internet Wissen schafft. Der Ansatz einer Antwort mag vielleicht in der Vermutung liegen, dass das Internet zu vernetzter Erkenntnis führt, die am Stamm unserer Ökosysteme reift. Das wäre ein Schluss, der die Anfänge wieder aufgreift.

Interessant vor allem deshalb, weil allenthalben Forschung eher auf das Abstellgleis gestellt wird: in Berlin und in Spanien wird es in ministerielle Sackgassen geführt und die bibliotheks- und informationswissenschaftliche Forschung schon lange bei der DFG z.B. gar nicht mehr existiert. (Abschaffung des entprechenden Programmbereichs der DFG „mangels Anträgen“, Abschaffung des Deutschen Bibliotheksinstituts, der Gesellschaft für Information und Dokumentation (GID) – schon vor alnger Zeit.)

Lieber Herr Degkwitz: wie soll es denn gehen? Wer soll die Forschung machen? Wer soll sie finanzieren? Die Informationswisssenschaften sind ja doch zum größten Teil an Fachhochschulen geparkt und Gutachter in Förderprogrammen sind C4 Professoren an Unis, die FHs nicht mögen.

Jedenfalls ist der lesenswerte Text ein Lichtblick zu Beginn des Jahres. Ein neuer im „inneren Kreis“ der Bibliothekswelt (Stoltzenburg) versucht, einen neuen Akzent zu setzen. Ich bin gespannt, ob er erfolgreich ist.

 

Zweiter I-Science Day in Potsdam

Am 22. März 2011 veranstaltete der Fachbereich Informationswissenschaften nach der starken Nachfrage im vergangenen Jahr zum zweiten Mal den Potsdamer I-Science-Tag – erneut mit großem Erfolg. Wieder konnten viele nationale und internationale Referenten aus Hochschullandschaft, Wissenschaft und Wirtschaft gewonnen werden, um zum diesjährigen Thema „Digitale Gesellschaft: Vom Web 2.0 zum semantischen und visuellen Web 3.0“ zu sprechen. Auch die Teilnehmer der Tagung kamen aus den unterschiedlichsten Bereichen und trugen zu einem regen Ideenaustausch und zu den Diskussionen bei.

Die Vorträge selbst, sowie die Folien und Abstracts der Referenten sind nun auch auf den Seiten der I-Science-Tagung 2011 zu finden.

Nachtrag: auch die Presse berichtet ausgiebig darüber, macht jedoch leider aus Informationswissenschaftlern Medienwissenschaftler. Das ist umso bedauerlicher, als aufgrund eines Wissenschaftsratsgutachtens gerade die Medien- und Kommunikationswissenschaften vor einigen Jahren vom Cluster der Informationswissenschaften hochschulpolitisch getrennt wurden. (Vgl. dazu meinen ausführlichen Beitrag hier im Blog.)

Hier zur Archivierung der PNN Artikel vom 25.3.2011 (Campus-Seite):

Die Spielplatzdichte von New York

von Von Richard Rabensaat

Visuelle Kompetenz erweitern. Film, Animationen und auch die Kommunikation im Internet werden immer wichtiger. Foto: dpa

Medienwissenschaftler haben an der FH die Möglichkeiten des Internets der Zukunft diskutiert

„Ein Computer versteht das Lächeln der Mona Lisa nicht“, stellt Stephan Büttner fest. Das geht nicht nur der Rechenmaschine so, schließlich rätselt die Menschheit seit gut 500 Jahren, was sich hinter dem edlen Antlitz der Schönheit verbirgt. Dennoch illustriert die Feststellung des Professors für Digitale Medien an der Fachhochschule Potsdam (FH), wie weit die Erkenntnisfähigkeit von Siliziumprozessoren reicht. Beim zweiten I-Science Tag des Fachbereiches Informationswissenschaften der FH zeigte Büttner in dieser Woche ein Foto des Gemäldes, das leicht verändert ist, aber einen völlig anderen Ausdruck hat. Die Informationen über die Veränderung könne ein Computer schnell analysieren, welche Stimmung das Bild dann transportiere, könne er vielleicht auch benennen. Was dies bedeute, würde der Rechner allerdings nie erfassen, vermutet Büttner.

„Vom semantischen zum visuellen Web“, lautet das etwas kryptische Motto der Veranstaltung. Mit Facebook, Twitter, Skype und allerlei anderen Anwendungen würde sich die allseits ausufernde Kommunikationsflut im Netz und auf Mobilgeräten ausbreiten, sagen die Wissenschaftler. Deshalb sei es an der Zeit, den ubiquitär verfügbaren Informationen ein anderes Erscheinungsbild zu geben und sie damit auf eine neue Erkenntnisstufe zu hieven.

Bei der Diskussion, wie es mit dem Web weitergehe, würden im Wesentlichen zwei Positionen vertreten, resümiert der Medienwissenschaftler Christoph Hobohm. Während die eine Fraktion behauptet, dass immer noch nicht genug Daten gesammelt würden, legten andere den Schwerpunkt eher bei der Informationsverarbeitung und der sinnvollen Verknüpfung von Daten.

Ein ungeplant anschauliches Beispiel für den gegenwärtigen Stand der Kommunikation im Netz liefert Andrew van de Moere. Weil seine Reise vom belgischen Leuven nach Potsdam nicht zustande kam, spricht er per Liveschaltung vom Beamer in den Hörsaal. Ist die Art, wie sein Vortrag zu der Tagung gelangt, eine mustergültige Web 2.0 Anwendung, so ist der Inhalt ebenso prototypisch für die von den Veranstaltern vermutete Entwicklung des angekündigten Web 3.0.

Moere ist quer durch das Netz gesurft und hat dabei allerlei Webseiten zusammengetragen, in denen nicht Daten und Tabellen, sondern Animationen, Fotos, Filme und Grafiken gleich beim ersten Hinschauen die gewünschten Informationen veranschaulichen. Nicht besonders neu ist die Vermutung, dass es letztlich jede nur denkbare Information im Netz zu finden gibt. Es erstaunen dann aber doch die unmittelbar bevorstehenden Erweiterungen, an denen Informatiker und Programmierer in aller Welt basteln.

Abgefragt werden können nicht nur die Informationen über Höhe, Alter und Zustand jedes Baumes in San Francisco, auch zur Spielplatzdichte in New York und der Anzahl der gestorbenen Soldaten in Afghanistan finden sich mit Bildern aufbereitete Daten im Netz. Den Hauskauf in London erleichtert eine Seite, die es ermöglicht, mit einschränkenden Kriterien, wie der gewünschten Nähe des Arbeitsplatzes und des maximal zur Verfügung stehenden Budgets, die wenigen Orte herauszufiltern, die für den Immobilienkauf infrage kommen.

Auch vor dem Genom des Nutzers macht die Computergrafik nicht halt. Moere hat ein ganzes Bündel von Seiten gefunden, die aus individuellen Genomdaten abstrakte Farbfelder errechnen. „Das ist völlig zweckfrei, aber es sieht trotzdem hübsch aus“, kommentiert der Wissenschaftler. Die Umsetzung von Programmcodes in klingende Töne ist ebenfalls keine Zukunftsmusik mehr und Mediziner freuen sich über die Möglichkeiten der Übermittlung von Pulsschlag und Blutzuckerwerten über das Internet.

Etwas bange mag einem dann aber werden, wenn Computerfirmen Kameras entwickeln, die alle paar Sekunden ein Bild schießen. Diese ermöglichen detaillierte Auskunft über jede Bewegung des Trägers der Kamera. Auch der individuelle Musik-, Essens- und anderer Konsum wird erfasst und möglicherweise unmittelbar gespeichert. Von solchen Möglichkeiten hat nicht einmal George Orwell geträumt. Bis zu Überlegungen, die jeweilige Wetterlage mit einer eingebrannten Wolke oder Sonne auf dem Frühstückstoast zu illustrieren, haben Designer ihre spielerische Fantasie treiben lassen.

„Wir werden in Zukunft mehr Zeit damit verbringen, unsere visuelle Kompetenz zu erweitern“, vermutet Christoph Hobohm. Film, Animationen und auch die Kommunikation im Netz würden immer wichtiger. Dementsprechend wandele sich auch das Berufsfeld der 400 Bibliothekare, Dokumentaristen und Archivare, die an der FH ausgebildet werden. Drei Bachelorstudiengänge mit jeweils 30 Plätzen pro Semester fasst der Fachbereich derzeit. Hier wird heute schon das Personal für eine zunehmend digitalisierte Zukunft ausgebildet.

Vortrag im Innovationskolleg der Fachhochschule Potsdam

Innovation und Volition. DIKW in der Klimadiskussion: können Daten Verhalten ändern?

Das Thema hört sich zunächst obskur an. Mein Weg im und in das Innovationskolleg „Stadt-Klima-Potsdam“ der Fachhochschule Potsdam ist hier auch nicht immer gradlinig. Mein urspünglicher Ansatz betonte die sozialräumliche Komponente des Wissens in der Stadt: Orte und Flüsse des Wissens in der Stadt. Aber meine aktuell laufenden und teilweise auch erst kürzlich bewilligten Forschungsprojekte haben der Diskussion dann einen etwas anderen Drive gegeben: z.B. in Richtung Innovations und Kreativitätsforschung. Aber auch bekanntes taucht wieder auf: wen wunderts: DIKW – hier in der Fassung meines Beitrags im Lexikon der Bibliotheks- und Informationswissenschaft. (Grafik von mir als Versuch einer Neufassung, da kannte ich aber die Fassung von Donald Clark noch nicht.) Auch die Anregungen und Diskurse im Kolloquium und in den Interflex-Lehrveranstaltungen haben zu Ergebnissen geführt, die auch für mich unerwartet waren.

Das Kolloquien-Thema des Innovationskollegs war schließlich „Verhaltensänderung angesichts des Klimawandels„. Der Ablauf der Vorträge war im Wintersemester: Hermann Voesgen (Kulturarbeit) zur Projektgesellschaft, Jutta Bott (Sozialwesen) zu Verhaltensänderungen aus soziopsychologischer Sicht und Frank Heidmann (Interface Design) über persuasive Computing. Den möglichen Beitrag der Informationswissenschaften lotete mein Vortrag aus. Dass sich zu den drei anderen Disziplinen große Überschneidungen ergeben, ist nicht nur dem Thema „Klima+Verhalten“ geschuldet, sondern zeigt auch die Fruchtbarkeit des interdisziplinären Ansatzes des Innovationskollegsmodell der Hochschule.

Auch für die anderen Projekte am Fachbereich COPAL, Datacreativity Tools und Semantische und visuelle Technologien erwies sich die Beteiligung am Innovationskolleg als fruchtbar. Die Vorträge sollen bis zum kommenden Sommersemester in einer Broschüre vertextlicht erscheinen. (Bitte schauen Sie sich die Vortragsfolien im Fullscreen-Modus an, damit Sie die Vortragsnotizen lesen können, da die Bilder oft nicht selbst erklärend sind.)

Zweidimensionale Bildschirme lassen das Gehirn verkümmern

Die Debatte um die Gefährlichkeit der vernetzten und zweidimensionalen Bildschirmwelten hatte im Laufe des Jahres 2009 schon eine gewichtige neurophysiologische Stellungnahme von Seiten eines Mitglieds des britischen House of Lords Baroness Susan Greenfield, Professorin für Neurophysiologie in Oxford, erhalten, die immer noch anschauenswert ist.  „Die Gefahr des Social Networking“: Vortrag am 4.10.2009 im Sydney Opera House:

Die Reaktionen und Verwertungen des Vortrags (z.B. der hier vernetzte Ausschnitt) zeugen von der in ihm vermittelten These, dass die meisten Menschen eine Art Aufmerksamkeitsdefizit haben und den Film nicht zu Ende bzw. ganz anschauen. Tut man dies, so erkennt man den Tenor der Debatte vor allem ab dem Zeitpunkt an dem Lady Greenfield („eine der 50 mächtigsten Frauen Englands“) über die neuen Medien spricht. Die Argumentation gibt sich den Anschein ganz hoher Wissenschaftlichkeit mit vielen Beispielen aus der Gehirnforschung, aber wo es darauf ankäme, zu den eigenen Thesen im Hinblick auf die neuen Medien Belege vorzuweisen, werden immer nur Analogien zu alten Forschungsergebnissen gezogen. Die gewählten „Filmzitate“ während des Vortrags erscheinen mir ebenfalls eher tendenziös – um nicht zu sagen manipulativ. Ich empfehle den ganzen Vortrag zu hören/sehen (mp4-Langfassung).

Lady Greenfield sagt allerdings selber am Schluss, dass alles, was sie vorher gesagt hat nur Meinung war und nicht durch Forschung belegt ist: „man solle das doch mal sagen dürfen… “ Als publikumswirksame Psychologin sollte sie wissen, was sie damit anrichtet.

vgl. auch mein Beitrag zu Schirrmacher