Ende der Bibliothek

Tagungsbericht: in print erschienen in Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie, 57 (2010), S. 220-224

Arbeitsgespräch des Forschungszentrums Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien und der Forschungsbibliothek Gotha
22.-23. April 2010
Wissenschaftliche Leitung: Dr. Uwe Jochum (Konstanz) und Dr. Armin Schlechter (Speyer)

Der provokante Titel der Tagung – anfangs sogar ohne Fragezeichen – war in der Tat Programm. Insofern war auch die Auswahl der Referenten provokativ. Zum Bibliotheksthema gerufen wurden nicht wie üblich die Protagonisten der Institution selber, sondern auch ihre Lieferanten, Partner und Vertreter verschiedener anderer wissenschaftlicher Disziplinen. Intendiert war u.a. eine bibliothekswissenschaftliche Analyse der Situation der Bibliothek im Zusammenhang mit dem Erstarken der Digitalen Ära. Deshalb verwunderte es auch nicht, dass sowohl bei den Referenten als auch bei den Zuhörern zahlreiche Vertreter der Verlagswelt in Gotha waren. Die eigentliche akademische Bibliotheks- oder Informationswissenschaft war interessanterweise nur mit einem Vertreter (Hobohm) involviert. Als Arbeitsgespräch ausgerichtet, blieb es allerdings eine kleine Diskussionsrunde mit ca. 30-40 Teilnehmern, die sich vorwiegend aus der Community der Forschungsbibliotheken (Gotha, Weimar, Hannover) und mit an der Digitalisierung historischer Drucke interessierten Personen rekrutierten (Siebeck, Reuß). Die weiteren wissenschaftlichen Vertreter der Diskussion kamen interessanterweise aus dem Bereich der Gestaltung (HFG Karlsruhe, Bauhaus Univ. Weimar) oder der Soziologie/Publizistik (FAZ).

In seiner Einführung erläuterte Uwe Jochum, dass der Anlass der Tagung die ihn und Armin Schlechter drängende Frage nach dem Ort der Bibliothek in der digitalen Gesellschaft war. Er machte darauf aufmerksam, dass in der argumentativen Modernisierung, die die Bibliothek in der „Informationsgesellschaft“ mit dem naturalisierenden Informationsbegriff der 70er Jahre erfuhr, dieser gleich zwei Probleme beschert wurden. Es entstand eine Monokultur der bibliothekarischen Selbstbeschreibung als Informationseinrichtung, die ihre medial-materielle Bedingtheit aus dem Blick verlor, weil „Information“, der klassischen Informationstheorie folgend, als reiner Inhalt und augenscheinlich losgelöst vom Trägermedium gesehen werden konnte. Gleichzeitig wurde der Informationsprozess auf seine technische Komponente reduziert, was insgesamt zur Folge hatte, dass sich eine Entmaterialisierung der Bibliothek ergab, die der Leib- und Weltgebundenheit des Menschen nicht mehr gerecht wird.

Jürgen Kaube (Ressortleiter Wissenschaft der FAZ) stellte – ohne direkt auf ihn Bezug zu nehmen – die Frage von Berhardt Fabian1 nach der Konzeption der geisteswissenschaftlichen Werkstatt erneut: während für die Naturwissenschaften umfangreiche Untersuchungen aufweisen können, wie der wissenschaftliche Erkenntnisprozess im Labor oder in der „Natur“ abläuft, gibt es zu wenig Analyse über den ‚Ort‘ der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung. Wissenschaftssoziologische Studien belegen z.B. dass Geisteswissenschaftler nicht nur neugierig, sondern auch „altgierig“ sein können und sogar manche Texte mehrfach lesen. Vor allem die Tatsache, dass einige Wissenschaftsdisziplinen auch Zeit zum Lesen und Rezipieren von langjährigen, komplexen wissenschaftlichen Diskursen brauchen, wird von der Forschungspolitik, die nur auf quantitative Projektergebnisse orientiert ist, nicht berücksichtigt. Im aktuellen – politisch so gewollten – Wissenschaftsapparat wird primär geschrieben und nicht mehr gelesen. Die Konsequenz daraus ist, dass sich ein anderer Ort geisteswissenschaftlicher Forschungspraxis: der paratextuelle Bereich der Fußnoten, in letzter Zeit drastisch geändert hat. Hier finden sich zunehmend Verweise lediglich auf komplette Monographien und nicht mehr, wie ursprünglich in der Nachweisfunktion der Fußnote angelegt, der Beleg der Herkunft einzelner Argumente und Gedanken, die sich eher auf einer oder wenigen Seiten eines Textes befinden. Die Adressierungstiefe des Gedankens hat abgenommen und die Fußnote ist von der Demutsformel zur Angeberei verkommen. Das Schreiben selber ist zum karrierepolitischen Ritual geworden und intendiert selber auch nicht mehr das Lesen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften sollten nach Jürgen Kaube aufhören, die Naturwissenschaften zu imitieren, weil sie für deren Neuheitsfiktion nicht gerüstet seien und eine Logik für „slow sience“ in der aktuellen Wissenschaftspolitik nicht in Sicht sei.

Georg Siebeck (Mohr Siebeck Verlag) stellte in seinem Vortrag in sieben Thesen und einem Einblick in die Geschäftsdaten des Verlages die Zukunft der Bibliotheken in der digitalen Welt aus der Sicht eines Wissenslieferanten auf die Probe. Er betonte dabei die Rolle der Bibliotheken bei der Wahrung der Vielfalt der Wissensproduktion und unterstricht ihre Aufgabe bei der Entwicklung von Metadaten und Standards zur Nutzung auch neuer Medienformen in ihrer ganzen Angebotsbreite. Wesentlich ist dabei die Sicherung der unternehmerischen Risikobereitschaft durch die Gewährleistung einer unabhängigen, nachhaltigen Infrastruktur gerade weil die Bibliotheken immer schon nicht nur für den aktuellen Bedarf und zeitnahe Verwertung gesammelt haben, sondern ähnlich wie Verlage auch eine potenzielle, prospektive Nutzung im Blick haben.

Markus Krajewski (Bauhaus Universität Weimar) konnte mit erhellenden Beispielen aus Literatur und Autobiographien von und über die Personalkategorie der Bibliotheksdiener eine prinzipielle Entwicklung im Zusammenhang mit dem bibliothekarischen Dienstleistungsgedanken deutlich machen. Authentische Berichte von Bibliotheksnutzern und „Bibliotheksunterbeamten“ zeigen, dass gerade diese Personen im direkten Kontakt mit Büchern und Benutzern auch die meiste Kenntnis über Inhalte, Funktionen und Bedürfnisse im bibliothekarischen Geschehen haben. Der Bibliotheksgehilfe verwaltet zwei Adressräume: den des Magazins und seiner Signaturen und – weil er ursprünglich auch Botendienste zu und von Nutzern machte – auch die Adressen der Stadt und ihrer Hausnummern. Mit dem Aufkommen der Post und seiner Boten verlor der Bibliotheksdiener den städtischen Adressraum, mit dem Aufkommen der EDV-Dienste verlor er auch den bibliothekarischen: „der Diener wandert in den Kanal“ und der servant wird zum Server. Damit verliert die Bibliothek den wahren Wissenden und gleichzeitig sein wichtigstes Übertragungs- und Übersetzungsmedium. Die beobachtete Entsubjektivierung des Kommunikationskanals bedeutet auch, dass seit dem Vorherrschen des IT-Services die „Relevanz zusammenbricht“ (so ein Kommentar in der dem Vortrag folgenden Diskussion).

Die Literaturwissenschaftlerin Christiane Heibach (HFG Karlsruhe) thematisierte in ihrem Vortrag „(De)Let(h)e – von der Kunst des Vergessens im Digitalen Zeitalter“ das kulturelle Gedächtnis unter den Bedingungen des Digitalen grundsätzlich neu. Jan und Aleida Assmanns Unterscheidung von Speichergedächtnis (das Vergessen der Archive) und Funktionsgedächtnis (das Bewahren der Bibliotheken) ist nicht mehr anwendbar auf das alles speichernde und nicht mehr funktional vergessende Internet. Die neue mediale Struktur des digitalen Zeitalters erfordere ganz im Sinne McLuhans (das Medium bestimmt den Inhalt) auch eine neue Art des (organisierten) kulturellen Gedächtnisses. Eine neue Archäologie des Internet bedarf auch der Lösung für das Problem der Speicherung der Dynamik und des Prozessualen der Digitalität. Eine neue Ordnung des digitalen Wissens sei notwendig: wer entscheidet über das Bewahren der digitalen Medienstrukturen? Hier sieht Heibach eine mögliche Aufgabe von Bibliotheken. In der Diskussion des Vortages wurde deutlich, dass die Kriterien der Buchkultur nicht auf das Internet anwendbar sind. Auch wenn der Externalisierungsprozess von Wissensspeicherung durch Technik schon von Plato kritisiert wurde, haben wir doch einen Punkt in der Informationsflut erreicht, der die Angst, dass die neuen Medien die Produktionsbasis des „ersten Mediums“ zerstören würden, vielleicht in einem neuen Licht erscheinen lassen könnte. Stehen wir am Anfang einer gänzlich neuen Epoche?

Reinhardt Laube (Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek Hannover) hinterfragte die bibliothekarischen Selbstbeschreibungen, die sich gerade in der politischen Sonntagsrede auf das falsch verstandene Goethe Zitat, Bibliotheken würden ein Kapital sein, dass geräuschlos Zinsen hervorrufe, beziehen. Er verwies darauf, dass Goethe mit diesem Ausruf mitnichten die wirtschaftliche Verwertbarkeit von Wissen in bürgerlicher Perspektive suggerierte, sondern ihn eher vor dem Hintergrund der adeligen, das Geschlecht bewahrenden Memoria tat, die ihm in seiner Bibliothek gerade als Hort der Zuflucht vor der Geschäftigkeit der Welt vorkam (Topographie-Modell der Bibliothek). Auch dieser Vortrag warf ein drastisches Licht auf das jüngere Informationsparadigma der Bibliothekswelt, das sich erstaunlicherweise gerade auf ein Argument aus seinem konträren Beschreibungsansatz als Gründungsmythos beruft. In der Diskussion wurde darauf abgehoben, dass die unterschiedlichen Formen der Konsensfindung der Gesellschaft nicht gegeneinander ausgespielt werden müssen, sondern ausbalanciert werden sollten – gerade in einer so wichtigen Institution wie der Bibliothek.

Hans-Christoph Hobohm (Potsdam) versuchte die Zuschreibungen der Bibliothek vor dem Hintergrund langfristiger bibliotheks- und mediengeschichtlicher Entwicklungen ebenfalls auf eine neue Zuspitzung zu treiben. Die Repräsentationen, die der Bibliothek in der jeweiligen Gesellschaftsform zugeschrieben werden, bleiben relativ konstant. In einer Gesellschaft des akzelerierten Wandels ist es letztlich aber nicht Information, sondern stets die Transformation, die dieser Institution als Funktion zufällt. Das ‚Ende‘/der Zweck der Bibliothek ist auf diese Weise stets auch mit dem kontinuierlichen Transformationsprozess der die Bibliothek tragenden Gesellschaftsform verbunden. Auch wenn die Bibliothek, wie bei Instituts- und Unternehmensbibliotheken beobachtbar, tatsächlich explodiert und damit kaum noch sichtbar ist, so bleibt die Funktion der Wissenstransformation (des Wissensmanagements im Großen wie im Kleinen) stets als Aufgabe bestehen. Die Institution Bibliothek und ihre Mitglieder tun deshalb gut daran, die Transformationen des Umfeldes ernst zu nehmen und sich selbst zu transformieren.

Der zweite Tag stand unter dem Motto „Medialität“ und umkreiste das Begriffspaar digital/analog. Die Quintessenz war in den Vorträgen des Vortages schon angelegt: in der digitalen Welt verliert das Analoge und der physische Kontext zu Unrecht an Stellenwert. Dies konnte Michael Knoche (HAAB Weimar) verdeutlichen an der jüngsten Geschichte des Bestandsaufbaus bzw. Buchersatzes der Herzogin-Anna-Amalia Bibliothek, bei der man sehr wohl nach dem Brand auch komplett auf Ersatzdigitalisierung hätte setzen können. Damit wäre die Rekonstitution des Bestandes zwar kostengünstiger geworden, aber der Lebendigkeit und Dynamik eines gewachsenen historischen Bestandes wäre man nicht gerecht geworden. Der Brand war Segen und Fluch zugleich: die Vielzahl der spontanen Hilfsangebote und der Zusendungen von „Ersatzexemplaren“ von weiten Teilen der Bevölkerung und der internationalen Bibliothekswelt machte zwar aus der höfischen Bibliothek noch keine bürgerliche Bibliothek wie in politischen Reden suggeriert wurde, aber es ergab sich dennoch eine neue Form des Bestandsaufbaus allein aus der Tatsache, dass nunmehr im Bestand zwar vielfach die gleichen Titel wie vorher stehen, aber eben nicht die gleichen Bücher mit ihrer ureigenen persönlichen Geschichte aus der „Provenienz“ der Herzogin. In der Diskussion musste Michael Knoche Rede und Antwort stehen, warum die „Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturgutes“ in ihrer Denkschrift2 eine Zäsur bei 1850 gesetzt hat. Dies sei vor allem der Tatsache der industriellen Produktion von Buch und Papier ab der Mitte des 19. Jahrhunderts geschuldet.

Bernhard Fischer (Goethe-Schiller-Archiv Weimar) machte noch eindringlicher darauf aufmerksam, dass das Original eine besondere historische Distanz ausstrahlt und seine Digitalisierung die Illusion birgt, eine günstige Lösung zu bieten. Vielfach sind zwar die technischen Kosten beherrschbar, aber die „Zukunftskosten“ werden erst gar nicht berechnet. Dazu gehören neben der immer noch ungelösten Frage der Digitalen Langzeitarchivierung vor allem die Frage der notwendigen Vorbereitungskosten wie die Erstellung nachhaltiger Metadaten, die von den verbreiteten Digitalisierungsförderprogrammen nicht gedeckt sind. Vielmehr herrscht hier „informationelle Planierung“ vor, die den Zeugniswert der Überlieferung und die Aura der Handschrift missachtet. Vor allem, wenn die Digitalisate ins Netz gestellt werden, in dem das Unbekannte als Letztes suchbar ist, während es im Archiv allerorten zu finden ist. Die „Kehrseiten der Wissensgesellschaft“, so könnte man den Vortrag zusammen fassen, sei das Verschwinden des archivischen Speichergedächtnisses, das zu immer neuen Begegnungen mit der materialisierten Geschichte eingeladen habe.

Auch Armin Schlechter (Pfälzische Landesbibliothek Speyer) fragte in seinem Vortrag nach dem Verbleib des alten Buches als archäologischem Objekt im Ensemble oder als Einzelexemplar. In der Digitalisierung des alten Buches werden die Ozeane der Materialitäten von Buch, Papier, Paratext, Marginalien und Provenienzen nivelliert. Wenn sie als sekundäre Artefakte im Prozess der Digitalisierung auftauchen wie z.B. die mitgescannte Hand des Bedieners, so wird dies nur noch als störendes Rauschen bei der Suche nach dem „sauberen Exemplar“ empfunden. Doch gerade das (die) „beschmutzte(n)“, unikale(n) Exemplar(e) wäre(en) das historische Denkmal, das es zu pflegen gelte. Hier sind die Spuren der Geschichte, nicht im vervielfältigten Text. In der Tat mag das recht exotisch erscheinen: „bibliographie materielle“ war aber immer schon eine „Orchideenwissenschaft“, die aber sicher genauso viel geistesgeschichtliche Bedeutung hat, wie jede andere Spurensicherung auch. Der auf der Tagung intensiv und fruchtbar mitdiskutierende Journalist der Berliner Zeitung, Reinhard Markner, betitelte denn auch seinen Bericht zur Tagung mit: „Wer liest Wasserzeichen?“ (28.4.2010).

Zum Schluss und Höhepunkt der Tagung kam, von den Teilnehmern mit Spannung erwartet, Roland Reuß (Institut für Textkritik, Heidelberg) zu Wort. Er verstand seinen mit „Das Buch als Individualmaschine“ überschriebenen Beitrag als streitbare Intervention und präsentierte sich selbst eher als kritischer Ethnologe, der die Bibliotheksszene „technikkritisch“ von außen betrachtet. Er bemängelte in erster Linie ein Fehlen der politischen Bewertung der Digitalisierung und die vielen unkritischen Analogiebildungen in der Mediengeschichte. So ist z.B. der Weg von der LP zum MP3-Track mit Sicherheit ein anderer als der von Buch oder Zeitschriftenaufsatz zum „Digitalisat“. Analogien seien immer nur auf Kosten der Differenz möglich. Sie helfen zwar vielleicht bei einem ersten Verständnis des Neuen, sie verdecken aber den Blick auf die je unterschiedliche Funktions(weise) und Zweck(e) der Analogiepole. Das vehemente Plädoyer des Vortrags galt – wie auch schon bei Siebeck – vor allem der Funktion des Verlegers als risikotragendem Unternehmer, der dem Autor mit seinem Buch als ‚Instrument zur Durchsetzung von Ideen‘ mit unternehmerischem Qualitäts-Gespür und typographischem Handwerk den Transfer zum Leser ermöglicht. Im staatlichen Digitalisierungsgeschehen fällt beides aus: die risiko-gesteuerte Verwertungsvorgabe bzw. Qualitätskontrolle und die Beachtung der Transferleistung der Gestaltung des Mediums. Das Netz hat jeden zum Textproduzenten, ja zum Verleger gemacht, so dass in unserer atypographischen Gesellschaft kein Bewusstsein mehr dafür vorhanden ist, was Schrift ist. Reuß charakterisiert diese Entwicklung als eine Art Krankheit der Gegenwart, in der er mit Georg Lukács die Zunahme eines fragmentierten Bewusstseins mit immer kürzer werdender Aufmerksamkeitsspannen beobachtet. Das wäre an sich nicht das schwerwiegende Problem: die positive politische Bewertung der Entwicklung macht hier Sorge. Zur medialen Entwicklung des Verlustes von Wissen um die Gestaltung von Buch und Schrift in einer Plattform, die nicht textbasiert ist wie man wegen des Vorhandenseins von Buchstaben auf dem Computerbildschirm denken könnte, sondern die eher eine Art Fernsehen mit Interaktion ist, konstatiert Reuß plakativ: „Wenn eine Gesellschaft ihr Wissen nur auf Verkaufsplattformen darstellt, haben wir Pech gehabt. Die Parallelität von Verkaufen, Unterhalten und Wissenserwerb im gleichen Medium ist des Teufels.“

So richtig ließen sich jedoch die Tagungsteilnehmer dadurch nicht provozieren. Zum einen, weil sich in Gotha tendenziell eher Gleichgesinnte zusammengefunden hatten, zum anderen aber auch, weil die Schlussanalogie des Vortrags dann doch zu sehr an die gegen Analogiebildung geführte eigene Eingangsargumentation erinnerte. Die allgemeine kulturpessimistische Gesellschafts- und Technologiekritik, die sich allenthalben in letzter Zeit beobachten lässt, erwies sich auch in Gotha damit letztlich nicht wirklich als fruchtbar. Im Resumée der Tagung fasste Armin Schlechter dies damit zusammen, dass sich eher eine Art Abwägen und für keine Seite ein Heilsversprechen ergeben hätte.

Für mich ergab sich eine ganz andere, viel wichtigere Konsequenz: es täte der Bibliothekswissenschaft not, viel häufiger so intensiv über die aktuellen Entwicklungen ihrer Institution nachzudenken. Selten habe ich so viele inhaltsreiche, gut durchdachte und ausformulierte bibliothekswissenschaftliche Vorträge mit so hoher politischer Aktualität gehört wie an diesen zwei Tagen in Gotha. Schade nur, dass praktisch kein Bibliothekswissenschaftler zu Wort kam und zu wenige „Wortführer der digitalen Gegenseite“ mit dabei war. Mit Spannung wird man den Tagungsband erwarten und kann sich freuen, dass diese Art bibliothekswissenschaftlicher Tagung in Gotha Fortsetzungen finden soll. Initiatoren und Trägern der Tagung sei gedankt für den Mut, ein so scheinbar anachronistisches Thema auf so hohem Niveau behandelt zu haben.