Paul Otlet und Frank Hartmann

Im Mundaneum,

Der Wiener Medienphilosoph Frank Hartmann „entdeckt“ den Urvater der Dokumentation in einem schönen Text in Telepolis.

Zunächst: was ist Medienphilosophie:

Es geht der Medienphilosophie um die immanenten technischen Variablen, um die Scharniere, die Kultur funktionieren lassen: nicht um selbstbewusst kommunizierende Subjekte, sondern um Vermittlungen in der Tiefendimension jeder Kultur. Zeichen, Wörter, Bilder sind dabei Übertragungsmittel, mit denen Ideen wirksam werden. Die Beherrschung von Raum und Zeit, also Transmission (Übertragen in symbolischen Systemen, Transportsystemen, Archiven, Institutionen etc.) ist allem Kommunizieren vorgängig.
Es findet unter bestimmten Bedingungen statt: Sprache, Schrift, Druck, Elektrizität, Audiovisualität, und aktuell: den Interfaces zu Rechenleistungen.
[schreibt er auf seiner Website]

Das Spannende an Otlet ist seiner Meinung nach nicht nur, dass er wiederentdeckt wird, sondern vor allem auch, dass er der Information neue räumliche Dimensionen geben will (Hervorhebung von mir):

Indem er das zentrale Element der Wissenskultur, das Buch, durch eine Kombination von Wissensbeständen und Telekommunikation zu ersetzen plante, nahm Otlet die entscheidende Komponente moderner Wissenskultur vorweg: Datenbanken. Speichern und Wiederauffinden von Daten auf vollkommen neuen Grundlagen war das Ziel. Schreibmaschinen bieten neue Möglichkeiten, mechanisches Auslesen von Daten wurde angedacht, aber auch neue Arbeitsgeräte wie mit Elektromotoren verstärkte „Classeurs“, die das Auffinden und Ausheben von Dokumenten besorgen. Schließlich sei niemand an Büchern interessiert, so Otlet, sondern an den Informationen, die diese enthalten. Sie könnten idealerweise auf neuen Arbeitsmöbeln angezeigt werden, auf dem frei verfügbare Flächen die gewünschten Inhalte darstellen (ganz nach Art des heutigen Desktops), die aus einem international vernetzten Reservoir an mikroverfilmten Dokumenten telekommunikativ abgerufen werden – eine Vorstellung, die Paul Otlet und seine Organisation des Weltwissens zum Vorläufer moderner Hypertext-Systeme macht.

Natürlich aber nicht zum heimlichen Vater des Internet, wie manchmal spekuliert wurde. Die Verräumlichung des Wissens war ein zentraler Bestandteil seiner Ideen. Otlet plante die Einrichtung eines globalen Informationszentrums, dessen Standort Brüssel, Genf oder Rom werden sollte. Als Planer für dieses Zentrum der „Cité mondiale“ wurde der Architekt Le Corbusier gewonnen, seine Entwürfe liegen im belgischen Archiv…

Und am Schluss seines Artikels fragt Frank Hartmann:

1989 wurde der „Traité de Documentation“ als Faksimile neu gedruckt, und darf, obwohl weitgehend unbekannt geblieben, als Klassiker nicht nur der Bibliothekswissenschaft, sondern auch der Informationswissenschaft gelten.

Zwar ist nichts gewonnen mit dem Hinweis, dass eine vernetzte Wissenskultur schon vor Jahrzehnten antizipiert worden ist. Vielleicht aber damit, dass die kurze Geschichte der multimedialen Informationsarbeit, an der mit Google, Wikipedia etc. laufend gebastelt wird, nicht erst mit dem Genius einiger kalifornischer Studenten begonnen hat. Seltsam ist aber auch, wie unbekannt trotz aller Anstrengungen der akademischen Medienarchäologen diese genuine Leistung eines europäischen Pioniers des Informationszeitalters geblieben ist.

und der Nicht-Medienarchäologe fragt sich, ob hier, nachdem Nikolaus Wegmann als Literaturwissenschaftler die Bibliothekswissenschaft requiriert hat, nun ein Medienphilosoph dies mit der Dokumentation macht?

via IB Weblog