Von Büchern und Bananen

Abschlusspodium der Tagung

Buchwissenschaftliche Forschung – Bestandsaufnahme und Perspektiven

… war das Thema der diesjährigen (14.) Jahrestagung des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte, die vom 9.-11.10.2006 in der Herzog August Bibliothek stattfand. Arbeitskreis und gastgebende Institution sind ganz ehrwürdige Einrichtungen und dementsprechend konnte man überrascht sein von der Aussage der Anwesenden, die Buchwissenschaft sei eine junge Disziplin.

Es wurde die Anekdote kolportiert, dass Buchwissenschaft von ehrwürdigen Dekanen einer großen deutschen Universität polemisch mit „Bananenwissenschaft“ verglichen wurde: warum sollte es Buchwissenschaft geben und keine Bananenwissenschaft? Das erinnert natürlich an den Vergleich der Bibliothekswissenschaft mit einer vermeintlich nicht existierenden „Krankenhauswissenschaft“, wie er vor Jahren heftig auf dem Kolloquium zur Aufstellung des Masterstudiengangs an der FH Köln diskutiert wurde.

Zu der Tagung mit dem Ziel den „state of the art“ eines Faches mit fünf universitären Standorten in Deutschland zu eruieren, hatten Ursula Rautenberg (Erlangen) und Monika Estermann (Börsenverein, Frankfurt) eingeladen. Weitere Teilnehmer der Tagung waren bekannte Namen aus dem Kontext des Arbeitskreises wie Werner Arnold (HAB), Peter Vodosek (Stuttgart), Thomas Stäcker (HAB), Siegfried Lukatis (Potsdam), Horst Meyer (BBB) und Erdmann Weyrauch (Leipzig) um nur wenige zu nennen. Grundtenor war schließlich, dass es in der Tat noch einer nicht geringen Anstrengung bedarf, bis die Buchwissenschaft als universitäres Fach ihren eigenständigen Diskurs gefunden und sich konsolidiert hat. Als Außenstehendem fiel einem besonders auf, dass nur wenige der Lehrstühle tatsächlich auch in der Diskussion vertreten, bzw. anwesend waren, und dass die Diskussionen sich sehr stark um Abgrenzungen bemühten. Es wurden Lücken identifiziert in der Darstellung des Mediums Buch in den eigenen Reihen, aber vor allem in den Nachbardisziplinen, allen voran den Medienwissenschaften: das Buch der blinde Fleck der Medienwelt? Das „Buch als Kulturgut“ zu zentral? Es konnten aber auch wesentliche konkrete Lücken thematisiert werden in der buchwissenschaftlichen Forschung in Deutschland generell und vor allem im internationalen Vergleich. So war der Beobachter doch immer wieder erstaunt, nicht nur wie sehr Marshall McLuhan immer noch als Diskussionsfolie (abgrenzend) bemüht wurde, sondern vor allem, dass der als Livre & Société bekannte Ansatz der neueren Geschichtswissenschaften um Roger Chartier, Robert Darnton, und Henri-Jean Martin in Deutschland offensichtlich (nach beinahe einem viertel Jahrhundert) immer noch keine forschungsträchtige Wirkung gezeitigt hat. Es mussten sogar immer noch Rudolf Schenda (Volk ohne Buch) und Wolfgang Iser (Akt des Lesens) bemüht werden. Dem gegenüber waren Jan und Aleida Assmann recht wenig präsent in den Inhalten der Diskussion, wenn auch ihre Namen öfter fielen.

Einigkeit bestand implizit in der Feststellung der Tatsache einer gründenden Beziehung zwischen Buch und Bibliothek und damit der gegenseitigen Angewiesenheit von Buch- und Bibliothekswissenschaft. Betont wurde unter anderem der Aspekt der Körperlichkeit des Mediums Buch unter Verweis auf Gérard Genettes Paratext-Ansatz (Georg Stanitzek, Siegen). Aber auch Paul Sängers Thesen zum typographisch bedingten Übergang von Mündlichkeit auf Schriftlichkeit verbunden mit der Entwicklung des stillen Lesens wurden immer noch intensiv diskutiert. Bei der Betrachtung der Konstituenten des Mediums Buch wurde mehrfach – nicht nur abgrenzend – Bezug genommen auf Luhmanns Definitionskonstrukt zum Medienbegriff, in dem er die ein Medium notwendig bedingenden Elemente ‚Formen’ nennt und nach deren Grammatik der Konstituierung fragt. Problem ist hier dann die Frage der Granularität dessen, was das Medium ausmacht. Ist es nur das Beiwerk des Textes (Paratext) oder kommen hier metatextuelle Faktoren (etwa Komponenten des kulturellen Gedächtnisses), intertextuelle Bezüge (Julia Kristeva) oder die Textarbeit als solche (mit den sie konstituierenden, architextuellen Komponenten (Genette)) im Medium Buch trotzdem noch als Formelement vor. Könnte diese Frage etwas genauer gefasst werden, so könnte sich klären, wie das übergeordnete Medium, der Bücher-, oder Medien- oder Wissens-“Haufen“, konstituiert ist, und welche Funktionen ihm zusätzlich zuzuschreiben sind. Dass Bücher wesentliche Funktionen bei der Wissensorganisation und -repräsentation übernehmen, ist offensichtlich unhintergehbare Grundsatzfeststellung.

Zur Klärung dieser Probleme wurde u.a. vorgeschlagen, auch im begriffsgeschichtlichen Bereich zu forschen – im Sinne von Reinhart Kosellecks Feststellung, dass Definitionen nur für geschichtslose Gegenstände möglich sind. Deutlich wurde damit auf jeden Fall, dass Buch- und Bibliothekswissenschaft sich der Historizität ihres Gegenstands nicht entziehen können – wie sie es teilweise z.Zt. ja versuchen – müssen auf Grund des Bologna Prozesses, der „berufspraktische“ Ausbildungsinhalte präferiert.

Die konkreten Forschungsberichte, nach Epochen und Themen gegliedert, von der Inkunabelzeit bis zur aktuellen Zensurforschung zum Leseland DDR stellten detaillierte Kartierungen dar, die in ihren Einzelheiten hier darzustellen den Rahmen sprengen würde. Wichtige Errungenschaften sind hierbei sicher die Neubearbeitung der Geschichte des deutschen Buchwesens von Friedrich Kapp und Johann Goldfriedrich, die zunächst nach einer digitalen Gesamtedition von Mark Lehmstedt (2000) nun unlängst mit den ersten Bänden der von Georg Jäger herausgegebenen Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert quasi fortgesetzt wird. Insgesamt wurde aber immer wieder betont, dass durch die Untertheoretisierung (Weyrauch) des Faches selbst die systematischen Lücken nicht immer benennbar sind. Die vielfältigen Bezüge auf Forschungsergebnisse aus den 80er und frühen 90er Jahren machte dies deutlich. Zu Einzelaspekten wurde immer wieder auf die Arbeiten von Matthias Bickenbach (Von den Möglichkeiten des inneren Lesens, 1999), Uwe Neddermeyer (Von der Handschrift zum gedruckten Buch, 1998 ) oder Ivan Illich (Der Weinberg des Textes, 1991) verwiesen. Der Altgermanist bzw. Bibliothekswissenschaftler Arno Mentzel-Reuters (München) vertrat auf der Tagung einleuchtend die These, dass „Handschriftlichkeit“ in der sog. Gutenberg Galaxis gar nicht ab-, sondern eher zugenommen hat. Die Schreibmaschine und damit letztlich die Computertastatur seien nicht der gedruckten Buchwelt zuzuordnen. Vielleicht liegt ja hier sogar die Grenze zwischen Archiv und Bibliothek. Michael Gieseckes Arbeiten – die ja gerade auch eine Nähe zu den Informationswissenschaften aufweisen (z.B. sein Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, 2002) wurden als dem Thema der eigentlichen Buchgeschichte unangemessen bewertet. Einzig grundlegend für das gesamte Fach der Buchwissenschaft ist hingegen das 1976 in Polen erschienene Werk von Krzystof Migón: Das Buch als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung (dt. 1990) und als theoretischer Bezugspunkt wurde Ulrich Saxers Einbettung des Buches in die Medienwissenschaft mehrfach positiv bewertet.

Neben dem Theorie- und Methodologiedefizit wurde auch mehrfach betont, wie problematisch die Quellenlage und Referenznachweissituation in dem „kleinen“, interdisziplinären Fach ist. Es gibt einerseits zuwenig wirklich zugängliche Archive der Buchwirtschaft und andererseits fehlt es diesen an ausreichender (digital zugänglicher) Erschließung. Große Hoffnungen werden gesetzt in umfassende Digitalisierungen der Quellen. So ist die komplette Digitalisierung der in VD16 und VD17 nachgewiesenen Schriften in Planung. Nach dem Auslaufen der Standardbibliographie von Horst Meyer „Bibliographie zur Buch- und Bibliotheksgeschichte (BBB)“ droht auch der Literaturnachweis noch unübersichtlicher und forschungshinderlich zu werden. Die Integration von BBB und WBB („Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet 1840-1980“) in das Fachportal b2i ist zwar ein wichtiger Schritt. Er ersetzt aber nicht die laufende Berichterstattung und Dokumentation der Literatur- und Forschungsproduktion. Auch an dieser Stelle ergeben sich wichtige Parallelen zur Bibliothekswissenschaft, der nach dem Abbruch des DOBI (Dokumentationsdienst Bibliothekswesen) ebenfalls eine wesentliche Grundlage genommen wurde. MLA in dem einen Fall und LISA in dem andern sind mit Sicherheit kein Ersatz: im Gegenteil: es ist doch eher beschämend, auf amerikanische und britische Datenbanken gerade in Wissenschaften zurückgreifen zu müssen, die wesentliche deutsche Wurzeln haben: Gutenberg, Schrettinger u.a.