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Ein Popstar auf dem Bibliothekskongress

In Kooperation mit der US amerikanischen Botschaft in Berlin ist es gelungen, den Kongress mit einem Highlight starten zu lassen:

BID Kongress: Congress Centrum Leipzig
Montag, 15.3.2010
11:00 – 12:00 Uhr, Saal 2
The Hyperlinked Community Library – Trends, Tools & Transparency
Michael Stephens, River Forest
Eine Veranstaltung der Zukunftswerkstatt in Zusammenarbeit mit der US Botschaft
Moderation: Hans-Christoph Hobohm, Potsdam

Am Ende einer Vortragsreise durch die Schweiz (Zürich, CERN) und Deutschland (Hamburg, Berlin, Potsdam) tritt Michael Stephens in Leipzig auf. Und einen als „Auftritt“ kann man seine Vorträge durchaus bezeichnen. Es erwartet Sie eine anregende Show durch neue Welten, die Bibliothekaren in aller Welt immer wieder Mut macht, die Reise des technologischen und gesellschaftlichen Wandels anzutreten.

Bekannt geworden ist Michael Stephens vor allem durch seinen inhaltsreichen und stets lesenswerten Blog mit dem Titel „Tame the Web“, in dem er seit Anfang 2003 (!) über „Bibliotheken, neue Technologien und Menschen“ schreibt: Wie können die neuen Technologien (wie Social Web, Mobile Computing oder Computer Gaming etc.) genutzt werden, um die Rollen und die Aufgaben der Bibliotheken zu stärken? Wie findet diese Technologie Eingang in die Bildungs- und Lernkultur? Und welche innovative Bibliotheken und Bibliothekare sind schon mit nachahmenswerten Beispielen in diesem neuen Reich zu finden? Er könnte somit fast als Sprachrohr für die „Zukunftswerkstatt Kultur- und Wissensvermittlung“ gelten, die ja seit dem Mannheimer Bibliothekartag genau die gleichen Fragen für Deutschland stellt.

Michael Stephens war lange Zeit im Management verschiedener öffentlicher Bibliotheken in den Vereinigten Staaten tätig, bevor er 2006 an die renommierte Dominican University wechselte. Dort kann man live verfolgen, mit welchen neue Methoden und mit welchem pädagogischen Geschick er die neue Technologien wie Twitter, Online Videos, Social Networks in seinen Lehrveranstaltungen einsetzt. Praktisch alle seine Aktivitäten sind dadurch ausführlich im Netz dokumentiert: Vorträge auf Konferenzen, seine Seminare und Gespräche mit den Studierenden, seine zahlreichen Publikationen, aber auch die Spaziergänge mit seinem Hund Cooper. Als Hochschullehrer fühlt er sich besonders der digitalen Zukunft verpflichtet. Er möchte seine Studierenden aber auch Bibliothekare generell fitt machen für den anstehenden dramatischen Wandel: „Change“ ist das Stichwort – und „Yes we can“ steht (unausgesprochen) ebenfalls dahinter.

Web2.0 gibt es ja noch nicht so lange: und doch hat sich dadurch die Welt erheblich verändert. Nimmt man dann noch die kleinen Taschencomputer wie Smart-Phones oder I-Pods mit dazu, so könnte man sich vorstellen, dass ein Zeitreisender vom Ende des letzten Jahrhunderts sich zu weit in die Zukunft katapultiert fühlt. Michael Stephens macht in seiner charismatischen Art die Bibliothekswelt darauf aufmerksam, dass die jüngste technologische Entwicklung unsere Gesellschaften und damit die Rolle der Bibliotheken drastisch verändert hat. Anders als bei früheren Technologieschüben gilt aber jetzt umso mehr: „Technology is just a tool“. Sein Credo dabei: Bibliotheken sind keine geschlossene Welt, sie müssen mehr Vertrauen in die Zukunft, aber auch in ihre (potenziellen) Nutzer entwickeln und sollten nicht immer glauben, alles kontrollieren und regeln zu müssen. Bibliotheken sollten transparent werden in den neuen Medien. Das neue Zeitalter ist partizipativ: eine Mitmachgesellschaft, also sollte man die „Leser“ auch mitmachen lassen, ihre Kreativität unterstützen und ihnen in ihren digitalen Welten auch „bibliothekarisch“ zu begegnen. Die Rolle der Bibliothek ist dabei eher eine Frage des Herzens und eben nicht der Technik: der Mensch steht in Vordergrund und das ist die Chance des Wandels!

Dabei funktionieren die bibliothekarischen Methoden des 20. Jahrhunderts definitiv nicht mehr im 21.! Zentral ist die Frage des Ortes der Begegnung und der Offenheit und Ehrlichkeit im Umgang mit dem Nutzer, der ja zunehmend ein digitaler „Eingeborener“ ist  – ein „digital native“. Von diesen können Bibliothekare lernen, z.B. von ihrem Verhalten als Gamer: die gehen mutig an die vom „Spiel“ vorgegebenen Aufgaben heran, denn sie haben das Vertrauen, dass man immer alles revidieren kann durch einen Neustart des Spiels. Spielerische Problemlösungsstrategien empfiehlt Michael Stephens den Bibliothekaren bei der furchtlosen Erprobung der Neuen Welt und dem Aufbau von partizipativen Umgebungen: „learn, discover, connect“. Bibliotheken sollten den Nutzern helfen, ihre persönlichen Lernnetzwerke zu etablieren, ohne sie als Bildungsinstitution zu bevormunden: „Let Go of Control“. Und dabei haben wir keine Zeit zu verlieren, denn „connected collaboration“ im social Web wird nicht mehr verschwinden.

Bleiben Sie also vertrauensvoll verbunden mit der neuen Welt: twittern Sie Michael Stephens an unter seinem Twitternamen: @mstephens7 und berichten Sie über den Vortrag in Ihren Blogs, Facebookseiten oder in Twitter mit dem Hashtag: #zw09 der Zukunftswerkstatt.

Hier einige Buchtitel, die Michael Stephens in seinen Vorträgen oft als Referenz benutzt:

Palfrey, John; Gasser, Urs: Born Digital: Understanding the First Generation of Digital Natives. New York: Basic Books, 2008.

Block, Peter: Community: The Structure of Belonging. San Francisco: Berrett-Koehler Publishers, 2008.

Wenger, Etienne; White, Nancy; Smith, John D.: Digital Habitats: Stewarding Technology for Communities. Portland, OR: CPsquare, 2009.

Stephens, Michael: Web 2.0 & Libraries, Trends & Technologies Part 2. Chicago, IL: ALA TechSource, 2007. (Library technology reports, v. 43, no. 5.)

Godin, Seth: Tribes: We Need You to Lead Us. New York: Portfolio, 2008.

(dieser Text erscheint in den KongressNews)

Braucht eine Landeshauptstadt eine Stadt- und Landesbibliothek?

Entwurf des Innenraums

Entwurf des Innenraums des zunächst geplanten Umbaus

In Potsdam gibt es eine interessante Debatte der Nachwendezeit, die sich leider an der Stadtbibliothek entzündet. Auf einer öffentlichen Bürgerversammlung (einberufen von der „Potsdamer Bibliotheksgesellschaft“) wurde in dieser Woche recht deutlich, dass es, wie die Potsdamer Neueste Nachrichten heute schreiben, eine große „Bibliothekslobby“ gibt. Leider werden die Argumente der Bibliothekslobby entweder nicht gehört oder nicht verstanden. Die Debatte entzündet sich an dem Argument der historischen Bedeutung des Ortes und vor allem der außergewöhnlichen städtebaulichen Ästhetik, die dieser Innenstadtbereich im 18. und 19. Jahrhundert (aber auch zu DDR-Zeiten) gehabt hatte. Die Fronten werfen sich gegenseitig vor, in unterschiedlicher historischer Distanz Revisionisten zu sein und sparen nicht mit Polemik und sogar Drohungen.

Wer gibt nur der ja meist schweigenden „Bibliothekslobby“ Gehör? Bis auf Ausnahmen wie Heidenreich oder Reich-Ranicki sind Leser oder (bibliotheksbenutzende!) Bildungsbürger nicht diejenigen, die die laute Auseinandersetzung suchen. Spricht man die Verfechter der historisierenden Fraktionen darauf an, so gibt es wenig Argumente gegen eine Bibliothek. Nur vereinzelt sind die Stimmen, die immer noch denken, das „B“ im Wort habe etwas mit Büchern zu tun. Auch die Symbolkraft einer Stadt- und Landesbibliothek als identifikationsstiftendem Bauwerk in einer Stadt wird keineswegs negiert. Dennoch fehlt dann allen Beteiligten offensichtlich der Mut, in beiderlei Sinn für den ‚Ort in der Stadt‘ und die ‚Bibliothek als Ort‘ eine gemeinsame Lösung finden zu wollen. Ob die Finanzierungsfrage („Hauptstadtmittel stehen nur bis Ende 2011 zur Verfügung“) wirklich eine Erpressung der Verwaltung oder gar parteipolitischer Schachzug ist, mag ich nicht entscheiden. Das städtebauliche und haushaltstechnische Beispiel Stuttgarts (das die neue Kulturbürgermeisterin sehr gut kennt) sollte jedoch zu denken geben: hier ist aus eminenter Finanznot von den großen Plänen zu „Stuttgart21“ (Ort der Stadt) nur noch mit Mühe und Not die Bibliothek als Ort übrig geblieben. Und das in einer Stadt Deutschlands von der man annahm, es sei eine der reichsten.

Das Gebäude der ehem. WAB der DDR als Fremdkörper im 18. Jhd.

Das Gebäude der ehem. WAB der DDR als Fremdkörper im 18. Jhd.

Es dreht sich darum, dass es irgendwie nicht gelingen will, in dem historischen Grundriss eine zentrale Funktion des städtischen Lebens zu integrieren (z.B sichtbar wie in Münster oder Ulm). Die in der Grafik eingezeichneten Gebäude existieren alle noch nicht und haben auch noch keine Nutzungsbestimmung bis auf die rosa Ecken. Dennoch sollen auch die rot eingezeichneten gebaut werden. Aber auch in dem bisherigen Entwurf des Architekten ließe sich sicher andere Formen der Raumnutzung und Gestaltung finden, die der Funktion und dem Gehalt einer Bibliothek gerecht würden und gleichzeitig den Ort in der Stadt respektieren. Dafür gibt es ja genügend Beispiele in der jüngeren deutschen und europäischen Baugeschichte.

Ich kann die Situation nur so interpretieren, dass die meisten öffentlichen Diskutanten persönlich keine Stadtbibliothek brauchen. Und das stimmt ja auch. Sie sind meist nicht die eigentliche Zielgruppe, und ob ihre Kinder die Bibliothek brauchen, scheint meist auch keine Rolle zu spielen. Richtig ist auch, dass die aktuellen (Noch-)Nutzer der Stadtbibliothek in gewisser Weise zur „alten Welt“ gehören, denn über die nun schon fast zwanzig jährige Nachwende-Debatte um die Stadt- und Landesbibliothek hat diese – vor allem wegen des lange Zeit enorm reduzierten Bestandsaufbaus und der zunehmend schlechten Aufenthaltsqualität im Gebäude – viele ihrer eigentlich gewünschten Nutzer verloren. Ihre „Bibliothekslobby“ – ihre Stammnutzer –  scheinen ewig gestrige Buchleser zu sein. Damit erscheinen Nutzer und aktuelles Gebäude in ähnlichem Licht und vielen recht fremd. Wir wissen, dass es in Deutschland das Fremde, das Andere immer sehr schwer hat und schnell in die ‚interessantesten‘ Schubladen gesteckt wird. Zum Glück wird von manchen doch noch oder wieder erkannt, dass Bibliotheken Bildungseinrichtungen sind – mit dem Problem allerdings, dass Bildung mit Buch gleichgesetzt wird.

Im gleichen Haus findet in diesen Tagen im anderen, abzureißenden Flügel die play09 statt, die kreativen Umgang mit den Neuen Medien unter dem Stichwort „creative gaming“ demonstriert und erproben lässt. Dort sind die jungen und aktiven potenziellen Bibliotheksnutzer, die die Bibliothek verloren hat, und die die Lobby sein könnten. Solche Zielgruppen, Medien und Aktivitäten (die aber paradoxerweise noch fremder erscheinen) gehören in das Herz der modernen Stadt, in ihren normalerweise niederschwelligsten und höchst symbolträchtigen öffentlichen Aufenthaltsort, den die Bibliothek darstellen sollte. Schauen Sie mal im ‚Schaufenster‘ der FH Potsdam vorbei für ein mögliches Beispiel für moderne bibliothekarische Arbeit.

weitere Informationen zur gesamten Debatte in der schönen Zusammenstellung hier.

weitere Beiträge: Spielball, Wissensspeicher
in der  tag-Wolke: „Stadt- und Landesbibliothek Potsdam

Diskursanalyse in der Geschichtswissenschaft

„Très chic“ titelte Oliver Jungen seinen Bericht in der FAZ vom 1.4. über eine Tagung an der Uni Düsseldorf. Die „Internationale Tagung zum Stand der Diskursanalyse in den Geschichtswissenschaften“ – „Diskursiver Wandel“ versammelte die junge Generation der Historiker, die – wie Jungen schreibt –  anders als die „Altvorderen“ Wehler, Evans u.a. nun auch in Deutschland die Foucaultsche Diskursanalyse für die Geschichtswissenschaft entdeckt haben. Die Tagung war sehr gut besucht von den „schwarz gekleideten“ jüngsten Fans von Michel Foucault. Der Tagungsbericht zeigt ein buntes Bild dessen, was z.Zt. unter Diskurs verstanden wird und der FAZ Kommentar dazu weist zurecht auf die Beliebigkeit dieses Begriffs hin, der oft eher Motiv-  und Begriffsgeschichte hervorbringt als die machtanalytische Diskurskritik Foucaults.

Dennoch macht dies auf zweierlei aufmerksam: wie langsam Deutschland in der Aufnahme großer internationaler Trends ist (Foucault ist schon wieder ziemlich out in den USA) und dass eine Art Diskursanalyse dennoch im Begriff ist, Mainstream der Geschichtswissenschaft zu werden. Wenn man sich allerdings genauer anschaut, wie diese „neue“ Geschichtswissenschaft betrieben wird, kann man anfangen, sich ernsthafte Sorgen darüber zu machen, ob denn genügend und die richtigen Informationsquellen für eine Diskursanalyse für die zweite Hälfte der 20sten Jahrhunderts zur Verfügung stehen werden.

Wie auch bei der Präsentation der Zukunftswerkstatt im Münzsalon letzten Mittwoch in Berlin eine Zuhörerin die anwesenden Bibliothekare fragte, warum denn nur Bücher digitalisiert würden – sie meinte, warum nicht auch die digitale Informationsmedien, mit denen jetzt die meisten „Kulturschaffenden“ fast ausschließlich arbeiten, nicht auch in den Digitalen Archiven und Bibliotheken vorgehalten und gesichtert würden.

Auf den Berufungsvorträgen zu unserer archivwissenschaftlichen Eckprofessur letzte Woche wurde mir als Nicht-Archivar (aber Sozialhistoriker) deutlich, dass die Art Material, die ich nutzen konnte zur Diskursanalyse des 18. Jahrhunderts (Prozessdokumentationen der staatlichen Zensurbehörden in Paris) ab Einführung der EDV in den Verwaltungen in der Mitte des 20. Jhds. nicht mehr möglich sein wird. Nicht weil die Daten physisch verloren gehen („digitaler Papierzerfall“), sondern vor allem, weil es keinen gibt, der die seit 30 Jahren angewandten, elektronischen „Fachverfahren“ dokumentiert / sichert. Nicht Zerfall der Informationsträger, sondern Zerfall der Institution – oder fehlende Ausdifferenzierung: aufgrund der GEschwindigkeit der Entwicklung noch (?) fehlende neue Institutionen. Archivare und Bibliothekare sollten wohl doch mehr selber fachwissenschaftliche Forschung betreiben, damit sie verstehen, was sie dokumentieren müssen.

Wieder einmal sieht man dabei, dass Information ziemlich wenig mit Informationstechnik zu tun hat, sondern eher der „Balken im Auge“ ist. Und in diesem Sinn bin ich recht froh, schon zur älteren Generation zu gehören. Nur meinen Sohn bedauere ich.