„Brauchen wir in Zukunft noch Bücher“ 
(oder ist dann alles digital)?

Screenshot 2015-07-26 14.41.59So lautete die Anfrage  der Märkischen Allgemeinen Zeitung (MAZ) für die Beteiligung an einem „Diskurs“, einem ggf. polarisierenden Statement zu einem eher wissenschaftlichen Thema, bei dem zwei Autoren fast eine ganze Seite eingeräumt bekommen und gegensätzlich Stellung nehmen. Der Text erschien gekürzt und leider mit einer anderen Überschrift am 1. Juli 2015 in der MAZ. Hier die Langfassung:

Die Frage ist paradoxerweise noch dramatischer, als sie sich anhört, sie müsste eher umgekehrt lauten: brauchen uns die Bücher, denn sie sind jetzt schon „digital“. Ohne nur auf akademischen Spitzfindigkeiten zu bestehen, sollte man darauf hinweisen, dass das Wort ‚Buch‘ vom frühgermanischen ‚Bok-s‘ kommt, das Buchstabe, Rune, im Plural Schriftstück bedeutet (und nicht wie Grimm noch vermutete von dem Baum ähnlichen Namens kommt), genauso wie das lateinische ‚liber‘ den Beschreibstoff Bast oder das griechische ‚biblos‘ den Papyrus meint, auf dem Schrift und Text transportiert werden. Interessanterweise wird Buch im Frühgotischen mit Bildung gleichgesetzt genauso wie ‚litera‘ (die Buchstaben) im Lateinischen die Gelehrsamkeit ist. In diesem Sinn brauchen wir „Bücher“ sicher sogar vermehrt.

Laut UNESCO-Definition sind (für Statistiken) Bücher nichtperiodische Publikationen mit einem Umfang von 49 Seiten oder mehr. hier könnte man vermuten, dass wir wie häufig diskutiert dem „Ende des Buches“ entgegen sehen. Das konkrete ständige Wachstum des Büchermarktes zeigt das allerdings nicht an: jedes Jahr werden auf der Frankfurter Buchmesse rein statistisch mehr Titel als im Vorjahr präsentiert. Eher kann man beobachten, dass kleinere Publikationsformen zunehmen. Das begann im Jahre 1665, in dem in Paris und London fast zeitgleich die ersten wissenschaftlichen Zeitschriften entstanden: mit kürzeren Texten und eben entgegen der UNESCO Definition periodisch erscheinend. Heute hat sich diese Form der (Fach-)Kommunikation im Umfang noch weiter verkürzt und in der Periodizität erhöht, wenn man z.B. an Blogs und Twitter denkt.

Trotz der wachsenden Zahl von Publikationen in unterschiedlichsten Formen kann man jedoch angesichts des exponentiellen Wachstums des Wissens von jährlich über 3,5 % annehmen, dass zumindest die Zahl der Publikationen, die wir üblicherweise Buch nennen, bei weitem nicht der Geschwindigkeit der Wissensexplosion entspricht. Aber wie gesagt, eigentlich sind die anderen eben auch bok’s, liberi, bibloi – und diese werden stetig mehr, wenn auch glücklicherweise nicht mehr auf Bast oder Papyrus, sondern zeitgemäß digital codiert auf elektromagnetischen Trägern.

Was sich jedoch tatsächlich radikal verändert, ist das Buchlesen, ja das Lesen überhaupt. Es ist nicht mehr ein einsames Tun, sondern wie auch das Schreiben (z.B. in Wikis u.ä.) ist das Lesen von Texten nun vernetzt und kooperativ. Fachtexte hatten schon immer die Tendenz, sich zu vernetzen mit Fußnoten und Zitaten. Jetzt sind diese per Hyperlink sogar miteinander direkt verknüpft, so dass der Leser tatsächlich gleich ganze Textbündel (Diskurse aller Autoren) im Cyberwissensraum seines Fachgebietes liest. Noch deutlicher zeigt sich diese Tendenz bei E-Books, die uns nun anzeigen, wer sonst noch welche Stelle eines Textes für wichtig befand. Früher war es von den Bibliothekaren äußerst ungeliebter Glücksfall, wenn man ein Studien-, oder Lehrbuch mit sinnvollen Annotationen von Vorlesern fand (und seien es nur die eigenen). Aber immer war es nur der eine auf einem bestimmten Beschreibstoff eines einzigen Exemplars residierende Text, der die Spuren der Rezeption trug. Heute ist der Buchtext per Cloud-Synchronisation spontan und simultan plötzlich auf allen Geräten, die man besitzt und eben nicht mehr nur an der einen Stelle im Regal, die man nicht sofort wiederfindet (oder habe ich das Buch im Büro gelassen?) Heute ist es Standard, nicht nur die eigenen, sondern sogar statistisch validierte Unterstreichungen von anderen in den Büchern zu finden. („62 andere Leser haben diese Textpassage markiert.“) Textlektüre wandelt sich also von der einsamen, zurückgezogenen und individuellen Kontemplation von Buchstaben zu einer gemeinschaftlichen, stets aktuellen, fast öffentlichen Angelegenheit. Der Text hat sich sozusagen vom Beschreibstoff emanzipiert und ist erwachsen geworden. Allerdings brauchen die Bücher dazu dann doch immer noch uns: die Autoren und die Leser. Ob es davon jedoch angesichts von Bildungsdiskussion und sich verschlechternder Alphabetisierungsrate in Zukunft genug geben, ist eine Frage der Politik der Unterstützung des öffentlichen, unterschätzten Gutes Wissen und Bildung.