Diversität als Basis für Informationsgerechtigkeit (Dewitz 2015)

Leyla Dewitz (2015): Diversität als Basis für Informationsgerechtigkeit. Berlin: Simon

Diese Woche kam die Verlagsausgabe der preisgekrönten Bachelor-Arbeit von Leyla Dewitz ins Haus. So knapp die Arbeit in der Printfassung aussieht, sie kommt recht gewichtig daher. Thematisch ein neues Feld in innovativer Kombination zweier gewagter Themenbereiche. Sie trifft den Kern einer Reihe von Diskussionen der letzten Zeit.

Hier mein dort abgedrucktes Vorwort dazu:

In Zeiten des radikalen Wandels gibt es zwei prinzipielle Verhaltensoptionen. „Business as usual“ oder „ad fontes“. Dass wir in einer Zeit des umfassenden digitalen und medialen Wandels leben ist mittlerweile durchaus weit akzeptiert. Nur die Konsequenzen, die gezogen werden um z.B. der erneut exponentiell gestiegenen Informationsflut zu begegnen, sind sehr unterschiedlich. Man kann dabei im Grunde beobachten, dass die Faszination der markttheoretisch höchst präzise auf Kundenbedürfnisse zugeschnittenen digitalen Produkte überwiegt. Der offensichtliche Erfolg von Google, Apple, Facebook und Co lässt auch Akteure aus dem nicht kommerziellen Bereich nach den Erfolgsrezepten dieser Ausschau halten. Dabei ist Personalisierung und Kundenbindung mittlerweile auch für öffentliche Dienstleistungen gang und gebe. Allzu oft werden dabei zwei Dinge übersehen: zu einen, dass auch aus markttheoretischen Gründen eine steuernde, öffentliche Hand für unterschätzte Güter wie z.B. Bildung überaus notwendig ist. Auch wenn man über den Umfang staatlichen Eingriffs in das Marktgeschehen diskutieren kann, deutlich wird immer wieder, dass vor allem der Informationsbereich der Tragödie der Allmende unterworfen ist. Insofern hat auch die Jahrzehnte währende Vorrechnung des „Return on Information“ bei den politischen Entscheidungsträgern nie wirklich gefruchtet.

Der zweite blinde Fleck ist die Tatsache, dass das Prinzip der Kundenbindung und damit deren ökonomisches Erfolgsrezept erfordert, dass die Aufmerksamkeit für Informationen außerhalb der eigenen Angebote eingeschränkt werden muss. Google ist deshalb so gut und beliebt, weil es immer nur genau die Informationen liefert, die der/die Nutzer*in selber mag. Eli Pariser hat dieses Phänomen 2011 die Filterblase genannt und darauf hingewiesen, dass wir uns in dieser Komfortzone entmündigen lassen.

Die Informationswissenschaft hat schon früh auf Probleme dieser Art hingewiesen etwa bei der Frage wie die Informationssuche zu gestalten ist und warum es Informationsarmut gibt. Schon der Schöpfer des Wortes Information Retrieval, Calvin Mooers, hatte in den 1960er Jahren betont, dass man davon ausgehen muss, dass Informationssysteme auch Informationen liefern, die der Nutzer lieber nicht erfahren möchte, weshalb er sich nicht „informiert“, und die Grande-Old Dame der Informationswissenschaft, Elfreda Chatman, hat seit den 1980er Jahren immer wieder empirisch nachgewiesen, dass soziale Armut oft mit bewusster Informationsarmut (also einer Filter Bubble avant la lettre) einher geht. Die sog. bildungsfernen Schichten sind danach nicht nur durch die „Umstände“ informationsarm, sondern eher aus informationstheoretischen, prinzipiellen Gründen.

Aktuelle politische Entscheidungen etwa die Abschaffung des Sammelauftrags der deutschen verteilten Nationalbibliothek der Sondersammelgebiete und deren Umbau auf die aktuellen Kundenwünsche folgen genau diesem erfolgreichen Filterblasen-Prinzip aktueller digitaler Großkonzerne und werden damit mittelfristig sicher betriebswirtschaftlich erfolgreich sein. In der aktuellen Umbruchphase in Richtung auf die „nächste Gesellschaft“ (Dirk Baecker) könnte sich eine solche Vorgehensweise jedoch als Irrweg erweisen. In Krisensituationen ist es manchmal ratsam, sich die ursprünglichen Funktionen und Aufgaben einer Aktivität oder Institution vor Augen zu führen. Informations- und Bildungsarbeit durch Bibliotheken und Fachinformationseinrichtungen sammelt eben nicht nur vergilbtes Papier, sondern gewährleistet Zugang zu Informationen und Wissen nach Möglichkeit ohne kommerzielles Interesse, ohne eingeschränkte Weltsicht im Hinblick auf eine umfassende und vor allem nachhaltige Nutzung. Besonders deutlich wird dies bei den Aufgaben von Archiven, die ausschließlich für zukünftige potenzielle Nutzung Dokumente aufbewahren. Aber Archive sind Informationseinrichtungen wie jede andere auch. Sie stehen nur am Ende eines Kontinuums an deren anderen Ende die Museen stehen, und niemand würde Museen einen möglichst diversifizierten Sammelauftrag absprechen. Museen und Archive sind allerdings meist etwas anschaulicher als Informationsarbeit in der Breite für eine „gesamte Bevölkerung“, deren Diversität zunehmend erkannt, ja gefördert wird. Damit sind die Anforderungen an Informations- und Bildungsarbeit schon benannt: sie müssen in die Breite der Potenzialität gehen und können sich nicht wie Archive und Museen auf Exemplarisches (oder Repräsentatives) beschränken. Ein schönes museales Objekt oder eine unikale Archivalie erreichen jedoch mehr Aufmerksamkeit als die diffuse Bildungsarbeit in der Breite, die noch dazu auf die Selbstbestimmung der Informationsauswahl setzt und diese fördern möchte.

Es ist das unschätzbare Verdienst der vorliegenden Arbeit, die Randbedingungen dieser Diskussion von den Grundlagen her verständlich und klar darzulegen. Dabei werden Gebiete angesprochen, die vielleicht bisher nicht so sehr im Fokus standen, weil sie mit dem rein betriebswirtschaftlichen Paradigma des aktuellen Kunden nicht vereinbar waren. Die zumindest theoretisch und teilweise auch im politischen Handeln schon gut verankerte Diversitätsdebatte trifft hier erstaunlich passfähig auf das noch recht neue Konzept der Informationsgerechtigkeit. Mit John Rawls und Amartya Sen werden wir von der Autorin geschickt in die Tiefen der aktuellen Welt-Gerechtigkeitsdiskussion eingeführt, die vielleicht über allgemeine Ansätze der bisherigen Informationsethik hinausgeht.

Dabei wird differenziert nach der soziologischen Einteilung von Makro-, Meso- und Mikro-Ebenen menschlichen Zusammenlebens. Auf der Makro-Ebene wird herausgearbeitet, dass z.B. das Konzept des Digital Divide sich nicht nur auf „Informationsarmut“ in der „Dritten Welt“ beziehen muss, sondern sich sehr wohl auch unter Diversitätsgesichtspunkten auf gesellschaftliche Gruppen vor Ort beziehen kann. Im Grunde mit Rawls wird die normative Beschreibung von Gleichberechtigung und Informationszugang bezogen auf die eingangs geführte Diskussion von „Information als Gut“. Die daraus korrekt gezogene Schlussfolgerung: „Der Zugang zu und Austausch von Information ist demnach ein wesentlicher Bestandteil für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung.“ fasst die allgemeine Diskussion zum Informationsbegriff kritisch zusammen: so einfach dieser Satz erscheint, er ist jedoch aus diesem Zusammenhang heraus eine bessere und sinnvollere Begründung als die sonst übliche rein volkswirtschaftliche Berechnung eines ROI für Informationsaktivitäten.

Auf der Meso-Ebene wird exemplarisch die Institution Bibliothek betrachtet in ihren grundlegenden Funktionen und aus den Selbstzuschreibungen ihrer Profession: besonders wichtig erscheint hier neben einer zentralen Rolle in den gesellschaftlichen Bildungsprozessen (die damit an die Makro-Ebene anknüpft) die Selbstzuschreibung einer Rolle im Hinblick auf Förderung von Inklusion und die Beseitigung von Diskriminierung. Die Autorin fasst hier schlüssig zusammen, „dass Bibliotheken eine gerechte Informationsverteilung zum Ziel haben“.

Auf der Mikro-Ebene nutzt die Autorin schließlich zwei informationswissenschaftliche Ansätze, die auf eine äusserst geschickte Weise wieder in der Ebenen-Struktur der Argumentation anknüpfen (Jaeger/Burnetts ‚Information Worlds‘ und Dervins ‚Sense Making‘), womit sie schrittweise beim Informationsverhalten des Individuums ankommt. Am Beispiel von LGBTQ Personen spannt sie den Bogen zurück zur Institution Bibliothek und der Problematik, dass hier gerade nicht die informationsgerechte Diversität geübt wird. Es ist der gewählten Rawls’sche Perspektive eines „transzendentalen Institutionalismus“ (A.Sen) von Gerechtigkeit geschuldet, dass hier die Argumentation nicht wirklich auf die Mikro-Ebene kommen kann. Der korrekt rezipierten aktuellen Ansätze der internationalen Informationsverhaltensforschung können jedoch ausgleichend in die Argumentation eingebaut werden als Basis für notwendige Diversitätsüberlegungen auf Seiten der Informationsproduzenten und -mediatoren.

Im abschließenden „praktischen“ Kapitel werden exemplarische Anwendungsgebiete der vorhergehenden (nicht nur) theoretischen Diskussion für Bibliotheken aufgezeigt. Zum Einen wird herausgearbeitet, dass gerade Diversität Grundlage von Informationskompetenz und ihren Schulungen in Bibliotheken ist, und dass dieses bei einer Selbstreflexion des schulenden Personals von Bibliotheken im Sinne von moralischen Gerechtigkeitsüberlegungen ansetzen muss. Zum Anderen wird ein praktisches Instrument des Bibliotheksmanagements dazu vorgestellt: das sog. „Diversity Management“ der Implementierung einer diversen Personalstruktur. Schließlich wird abrundend die aktuelle Debatte zur Nutzerorientierung im Bibliothekswesen aufgegriffen, die diskutiert, ob Kundenorientierung überhaupt möglich ist.

Nach fast zwanzig Jahren der versuchten Belebung des Kundenbegriffs und der Wirtschaftlichkeitsüberlegungen im Bibliotheks- und Informationsmanagement kommen wir damit in ganz neue oder vielleicht eher grundlegende „alte“ Vorstellungen zurück, was Informationsarbeit bedeutet und welche gesellschaftliche Verantwortung sie hat.

Die vorliegende Arbeit wurde 2014 als akademische Abschlussarbeit im Bachelor-Studiengang Bibliotheksmanagement der Fachhochschule Potsdam eingereicht und erhielt den „FHP Hochschulpreis“ für die beste Leistung im Studiengang.

Hans-Christoph Hobohm

Potsdam, im Oktober 2014