Rezension von R. Birn: Royal Censorship of Books in Eighteenth Century France

Birn 2012 - Royal censorship of booksNicht nur, dass mir der 5. I-Science Day zum Thema Digital Humanities die Gelegenheit gab, an meine wissenschaftlichen Ursprünge reflektierend zurückzukehren – gleichzeitig hatte sich auch die Gelegenheit ergeben, wieder einmal genuin (wenn auch nur mit einer Rezension) zu meinem alten Dissertationsthema zu veröffentlichen.

In der renommierten Francia-Online auf der perpectivia.net Publikations-Plattform der Geisteswissenschaften ist soeben eine Rezension von mir erschienen zu dem interessanten Buch von Raymond Birn, mit dem ich in den 1980er Jahren immer wieder zusammen in den heiligen Hallen der Pariser Bibliotheken und Archive nach Zensurakten gestöbert hatte.

Hier die elektronische Kopie der Rezension im Originalwortlaut (aus Dokumentations- und Archiverungsgründen, sowie die PDF Version):

—————————————–

Francia-Recensio 2014/1 Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815)

Raymond Birn, Royal Censorship of Books in Eighteenth-Century France, Palo Alto (Stanford University Press) 2012, XII–195 p., ISBN 978-0-8047-6359-2, EUR 55,99.

rezensiert von/compte rendu rédigé par

Hans-Christoph Hobohm, Potsdam

Die Faszination des Verbots trägt schon seit jeher das Interesse an Zensurforschung. Allzu häufig wird dabei eine Dichotomie aufgebaut zwischen intoleranter Rückwärtsgewandtheit und der Unterdrückung »moderner« Ideen. Die Rezeption des achtzehnten Jahrhunderts als Zeitalter des Durchbruchs der Aufklärung ist hierfür ein Paradebeispiel: der Kampf der aufklärerischen Ideen gegen das Ancien Régime führt zur Revolution und dem Sturz des Regimes! Dass diese Weltsicht eine verkürzte ist, wird immer wieder vermutet, auch wenn der Mythos eines grundsätzlichen Antagonismus weiterhin sehr präsent ist. Es ist das Verdienst des vorliegenden Buches auf sehr anschauliche und gut lesbare Weise die eigentliche Komplexität der Verhältnisse zu beleuchten. Die Standards und Praktiken der Zensoren zu Beginn des 18. Jahrhundert legen z. B den Grundstein für Exaktheit und empirische Evidenz wie sie später die Autoren der Aufklärung prägen. Unter Kanzler Louis II Phélypeaux, comte de Pontchartrain (1643–1727) entsteht im Grunde die Zensurverwaltung, die die französische Buchproduktion das folgende Jahrhundert prägt. So wird im Jahre 1718 das offizielle Register der »permissions tacites« angelegt, mit dem eine Praxis dokumentiert wird, die Jahrzehnte existiert oder es wird gerade auch in Auseinandersetzung mit dem Parlement de Paris die Repressivzensur explizit geregelt, die später in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zur systematisch organisierten Police de Livres führt1.

Der Weg von der absolutistischen Vergabe einer Druckerlaubnis von königlichen Gnaden in Form des abgedruckten »privilege du Roy« zu einer Steuerung des Buchhandels zum (ökonomischen und moralischen) Wohle der Nation ist damit früh angelegt. Die Urteile der Zensoren schon in der frühen Epoche bezeugen, dass ihr Bemühen nicht so sehr einem blinden Beharren auf traditionellen moralischen und theologischen Normen galt, sondern eher an (z. B. stilistischer oder wissenschaftlicher) Qualität orientiert war. So setzen selbst die Zensoren schon früh kritische Standards, die die encyclopédistes später auszeichnen. Es ist schon lange bekannt, dass viele Zensoren selber Autoren von Werken waren, die mitunter nicht normkonform waren. Der Fall der »Encyclopédie« zeigt auch, dass die Zensurbehörde, die Chambre Syndicale et Royale de la Librairie et Imprimerie, viel »weiter« war, als andere gesellschaftliche Institutionen. So kommt es erst durch die Unachtsamkeit eines Zensors bei der leichtfertigen Vergabe eines königliches Privilegs an Helvétius’ »De l’Esprit«, dem ohne weiteres wohl eine stillschweigende Druckerlaubnis hätte gegeben werden können, auf Drängen des Parlement de Paris zur Rücknahme des Privilegs für die in der Produktion befindlichen Folgebände der »Encyclopédie«2.

Raymond Birns Überblick über die Zensurgeschichte des französischen 18. Jahrhunderts lässt die buchgeschichtlich besonders interessante Epoche der Frühaufklärung (1715–1740) ziemlich unterbelichtet, obwohl schon in den 1960er Jahren die Analysen von François Furet und der Gruppe »Livre et Société« darauf hinwiesen, dass in diesem Zeitraum die Praxis der »permissions tacites« die der königlichen Privilegien an Bedeutung ablöst und damit den Wandel von der erlaubenden Vorzensur des Ancien Régime zur kontrollierenden Nachzensur der Moderne einleitet. Auch wenn die Praxis bis 1715 die »Encyclopédie« vorbereitet, so wird doch der eigentliche institutionelle Wandel gerade in der Zeit bis zum Zeitpunkt ihres Erscheinens vollzogen und macht die folgenden Ereignisse erst möglich.

Der berühmte Direktor der »Librairie«, Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes (1721–1794), beschreibt in seinen »Mémoires sur la Librairie« (1759) lediglich, was seine Vorgänger, Jacques Bernard de Chauvelin, sieur de Beauséjour (1701–1761) und Marquis Pierre Marc de Voyer de Paulmy, comte d’Argenson (1696–1764), schon in den 1730er Jahren seit dem Erlass des »Code de la Librairie« von 1723 als Praxis etabliert haben. Die Aktivitäten der Zensoren selber zeigen gerade auch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, wie sehr diese in der république des lettres verflochten waren und bei ihrer Zensurtätigkeit auf Ausgleich und Diskurs bedacht waren. Gerade auch in theologischen Fragen zeigten sie mehr Toleranz als der zahnlose Tiger des kirchlichen Index. Die Zensoren erweisen sich dabei als Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklungen, die sie nicht willentlich behindern, sondern eher kritisch begleiten, ja manchmal sogar mit den Mitteln des differenzierten Zensurapparats befördern helfen. Dass sie das auch in innere Konflikte stürzt, zeigt anschaulich das Beispiel des vielbeschäftigten Zensors J. B. C. Cadet de Saineville (1730–1814). Die Dokumente der Zensoren belegen kurz vor der Revolution, dass es nicht mehr die Normen von Moral, Theologie, königlicher Politik oder Personenschutz sind, die die Vorzensur beschäftigt, sondern etwas, das als »gesellschaftliche Nützlichkeit« bezeichnet werden könnte. Der öffentlich zugelassene Diskurs unterscheidet nun auch explizit nicht mehr nach dem sozialen Status der Leserschaft. Ein Phänomen, das im Übrigen schon in den 1730 Jahren im Zusammenhang mit der Beschlagnahmepraxis (d. h. der Nachzensur) von Romanen nachweisbar ist.

Nach einem kurzen Schlaglicht auf die Zensoren zu Beginn des Jahrhunderts widmet sich Birn vorwiegend den Zensoren der zweiten Hälfte und der vorrevolutionären Zeit. Der wesentliche Teil des Textes basiert auf Gastvorträgen am Collège de France und liegt bereits auf Französisch als »La Censure Royale des livres dans la France des Lumières« (Odile Jacob 2007) vor. Neu hinzugekommen sind vorwiegend weitere Kapitel zur Zensurpraxis (vor)revolutionären Zeit des späteren 18. Jahrhunderts. Auf 117 Textseiten, eingeführt von einem vierseitigen Vorwort von Daniel Roche, schildert er unprätentiös und erudiert die Haltung der Zensoren zu den ihnen anvertrauten Publikationswünschen. Es ist gut ein gut lesbarer Text entstanden, da die Fußnoten amerikanisch hinter den Text verbannt werden (als Endnoten). Das verbirgt wohltuend die historisch-archivische Akribie, die Birns Aussagen fundiert und als ultimative historische Realität erscheinen lässt. Viele seiner Aussagen beruhen auf dem monumentalen, im Erscheinen begriffenen (?) Werk von William Hanley3. So sind denn der kritische Apparat und die Quellenverzeichnisse auch für viele Spezialisten noch eine Fundgrube.

Allerdings kann man sich bei aller exakten Detailfülle des Eindrucks nicht erwehren, dass das vorliegende Buch eher einem positivistisch pragmatischen Verständnis von Geschichtsschreibung entspringt und sich als »Lektüre der Quellen« des Archivs versteht, allerdings nicht im Sinne Foucaults. Die beeindruckende Fülle an erhaltenen Unterlagen etwa der »Librairie«, der Buchaufsichtsbehörde, oder der »Censure des livres« der »Archives de la Bastille« verleitet zu einer extensiven Lektüre der konkreten Texte, lässt aber aus dem Blick geraten, dass das implizite Wissen hier nicht thematisiert wird und die Archive nur Vollständigkeit suggerieren. Einzelne Diskurs-Akte wie etwa das nur empirisch, indirekt nachweisbare Gattungsverbot des Romans kommen nicht an die archivische Textoberfläche, präfigurieren aber eindeutig die spätere offene Qualitätsdiskussion.

Auch wenn Pierre Bourdieu (mit einem recht knappen Zensurbegriff) erwähnt wird, lässt der Ansatz von Birn etwas die theoretisch-historiographische Einbettung vermissen. In der Tradition der Schule der Annales und der Gruppe »Livre et Société« waren bekanntlich die Untersuchungen zu Buchproduktion, Buchbesitz und Rezeption unter expliziten methodologischen Gesichtspunkten geführt worden und es ist ein wesentlicher Verdienst Roger Chartiers hier auch im Themenfeld der Buch- und Geistesgeschichte historiographisch prägend gewirkt zu haben. Nur am Rande ist auch aus deutscher Perspektive bedauerlich, dass bedeutende Beiträge von Dixhuitièmisten diesseits des Rheins nicht rezipiert wurden, auch wenn diese auch auf Amerikanisch und Französisch vorliegen (z. B. Gudrun Gersmann, Hans-Jürgen Lüsebrinck, Edgar Mass).

Wer also, wie der Titel es vermuten lässt, den großen systematischen und synthetischen Überblick über die Zensur des 18. Jahrhunderts in Frankreich erwartet hat, wird etwas enttäuscht werden. Er erhält jedoch einen anregenden Einstieg, der sich eignet als Einführung und Überblick aber gleichzeitig auch als erstes Nachschlagewerk.

1 vgl. Hans-Christoph Hobohm, Roman und Zensur zu Beginn der Moderne. Vermessung eines sozio-poetischen Raumes (Paris 1730–1744), Frankfurt a. M., New York 1992, S.140–214.

2 Hans-Christoph Hobohm, Le progrès de l’Encyclopédie. La censure face au discours encyclopédique. In: Edgar Mass und Peter-Eckhard Knabe (Hg.): L’Encyclopédie et Diderot. Köln: dme, 1985 (Kölner Schriften zur Romanischen Kultur; 2 / Textes et documents de la société française d’études du XVIIIe siècle; 2), S. 69–96. S. 79f.

3 William Hanley, A Biographical Dictionary of French Censors, 1742–1789. A–B, Ferney-Voltaire 2005.

Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung-Keine kommerzielle Nutzung-Keine Bearbeitung (CC-BY-NC-ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier:http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de