Bibliothekswissenschaft und Medienwissenschaft: Meinung des Wissenschaftsrates

Am 25. Mai publizierte der Wissenschaftsrat seine „Empfehlung zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland„. Zunächst nichts besonderes, wäre da nicht Methode, Anhang und ein blinder Fleck.

Aber erst einmal der Inhalt: der WR konstatiert, dass von den Kommunikations- und Medienwissenschaften

wesentliche Impulse für ökonomische, technische und kulturelle Entwicklungen unserer Gesellschaft ausgehen und dass umgekehrt der Bedarf seitens Wirtschaft, Gesellschaft und Politik, vermehrt auf diese Forschungen zurückgreifen [zu] müssen, steigen wird. (S. 10)

weiter wird festgestellt, dass

  • die Zahl der Studierenden in diesem Fachgebiet kontinuierlich steigt
  • das disziplinäre Feld sich zwar anhand der „Methoden, Gegenstände, Paradigmen, Terminologien und Traditionen“ deutlich in drei Hauptrichtungen (Kommunikationswissenschaft, Medientechnologie, Medialitätsforschung) differenzieren lässt, die sich stark gegeneinander abschotten, es aber in der Lehre und im Studienangebot „eine bisweilen sorglose Kombinatorik herrscht“ (8).
  • „Der Wissenschaftsrat ermutigt die genannten Wissenschaften, gezielt Kooperationen zwischen den drei Ausrichtungen, aber auch mit den jeweiligen Ursprungsdisziplinen, anzustreben.“
  • Der WR schlägt Modellcurricula vor (hat es das schon jemals gegeben, dass sich der WR in die Lehre so konkret einmischt?) und empfiehlt neben der stärkeren Integration technologischer Komponenten, den „medialitätswissenschaftlichen“ Themenbereich dem Masterabschnitt vorzubehalten [Hoppla: Wolfgang Ernst (s.o.) und Friedrich Kittler ab in den Elfenbeinturm!?]
  • Der WR betont, dass medientechnologische Studiengänge teuer sind
  • dass der wissenschaftliche Nachwuchs fehlt
  • und erinnert an seine Empfehlung, die Durchlässigkeit zwischen den Hochschularten zu erhöhen.
  • Er empfiehlt den Internationalisierungsgrad zu erhöhen und
  • die Bedeutung dieser Fächer in der Politikberatung ernst zunehmen.
  • Als letztes wird sehr intensiv auf die Langzeitarchivierung audiovisueller Quellen für die Disziplinen eingegangen, die Deutsche Nationalbibliothek bemüht und die RVK kritisiert.

Wie gesagt, an sich für den WR nichts besonderes, bis auf zwei, drei „Kleinigkeiten, die konkret mit LIS zu tun haben.

Der WR konstatiert, dass es kein

kommunikations- und medienwissenschaftliches Forschungsinstitut [gibt], das eine kontinuierliche und profunde Beratung von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit auf hohem Niveau sicherstellen könnte. (Pressemitteilung)

er schlägt konkret das Hans-Bredow-Institut in Hamburg dafür vor. Spätestens jetzt stutzt der Informationswissenschaftler und erinnert sich an die Abwicklung von GID und DBI, an das klägliche Ende des Fachinformationsprogamms und das Schließen des Referats „Digitale Bibliothek“ beim BMBF und vieles mehr.
Ist dies nicht eigentlich eine Sensation, die die Fachgemeinschaft der Medienwissenschaftler aufregen könnte und zum Streit um die sich auftuenden Finanzquellen anfachen sollte? Vielleicht hinter verschlossenen Türen, aber im öffentlichen „medialen“ Diskurs, den ich den Medienwissenschaftlern als naheliegend zuschreiben würde, finde ich kaum Reaktionen (man korrigiere mich): der Trierer Medienblog meldet es als „interessant“, Thomas Weber geht in Mediologie kurz darauf ein, ein kurzes Resumé gibt reticon.de „Bildung und Neue Medien“, im Blog der Bildungswissenschaftlerin Gabi Reinmann e-denkarium ist eine kleine Diskussion entstanden, Media Ocean vermeldet nix, auch das Berliner Formatlabor schweigt und andere haben erst gar keinen Blog.

Aber auch das mag nicht bedeutsam sein. Interessanter sind die methodischen Aspekte der Studie. Es werden keine Namen und Institute genannt, Zitate oder szientometrische Analysen präsentiert, sondern es wird ausschließlich mit offiziellem Zahlenmaterial der Hochschulstatisktik und des Mikrozensus gearbeitet. Diese verorten das was später als „Kommunikations- und Medienwissenschaften“ (neu) deklariert wird, im statischen Cluster des des Studienbereichs 06 „Bibliothekswissenschaft, Dokumentation, Publizistik“ (sic) und zeigen vor allem klassifikatorisches Beharrungsvermögen. Der größte Teil des reichhaltigen Zahlenmaterials (im Anhang ausführlich abgedruckt) bezieht sich in der Argumentation und in Trendgrafiken auf dieses Fächercluster. Noch nie habe ich die Bibliothekswissenschaft in einem Papier des Wissenschaftsrates so prominent platziert gesehen.

Mit KEINEM Wort geht die Studie allerdings auf das Verhältnis von Medienwissenschaft und Informationswissenschaft ein, obwohl die Analogie vom Zahlenmaterial deutlich gemacht wird. Die Frage nach der Parallelität vor allem auch im Sinne der konstatierten wissenschaftspolitischen Lücken und der gesellschaftlichen Bedeutung der beiden Nachbardisziplinen drängt sich geradezu auf.

Interessant ist vor allem die Schlussfolgerung, die „Kommunikations- und Medienwissenschaften“ sollten sich von anachronistischen Begrifflichkeiten befreien und wissenschaftspolitisch den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zugeordnet werden. (Lediglich die Medialitätsforschung sollte gefälligst – vielleicht sogar ohne Technologie – bei den Geisteswissenschaften verstauben. Auch dabei bekommt man mehr als nur ein Stirnrunzeln, was vielleicht auch die fehlende Resonanz erklärt, desavouiert sich die Wissenschaftspolitik doch mit solchen Anmutungen. Schließlich fragt man sich, wer denn die externen Sachverständigen des WR waren, welchem „Lager“ sie zuzuschreiben sind. Die Literaturliste lässt da schon erste Schlüsse zu. Genannt werden die zusätzlichen Autoren nicht. Über alle Gerüchte wäre ich dankbar.)

Andererseits ist es dennoch mutig, eine klassische Kulturwissenschaft so radikal neu zu verorten und sogar zu fordern, in diesem Zusammenhang solle doch die Regensburger Verbund Klassifikation (RVK) erneuert werden, weil sich die Medienthemen in einer verstaubten Ecke (A: Allgemeines) befänden. Nicht nur, dass dies gerade wenig von informationswissenschaftlichem Sachverstand zeugt, auch hier hätte ein reines Umschauen in der Klasse A genügt, um zu sehen, dass es sich nicht um ein Problem der Medienwissenschaften allein handelt. Was zusätzlich dann regelrecht erstaunt, ist der häufige und direkte Bezug auf die Nationalbibliothek und die Initiativen zur Langzeitarchivierung wie KOPAL u.a. (Themen, die der WR und die DFG ja schon „durch“ haben.)

Ich wage zu bezweifeln, ob der medienwissenschaftlichen Landschaft genau diese Empfehlung weiterhilft. Ich war in den 90er Jahren an einem ähnlichen Gutachten beteiligt, das ebenfalls die desolate Unstrukturiertheit und die medienpolitischen Grabenkämpfe dieser Disziplinen bedauerte – geholfen hat auch dieses offenbar nicht viel. Bloß die Medialitätsforschung ist jetzt als besonderes Problemkind dazu gekommen. Es wäre interessant zu erforschen, wie konkret der Einfluss von Kittler hier gewirkt hat…

Für die Informationswissenschaften liegt jedoch das stärkste Stück in den vorgeschlagenen Curricula (von denen ich nur zwei der drei hierher kopiere):

Modellcurriculum Medientechnologie (B.A.)       Modellcurriculum kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung (M.A.?)

Den Affront bzw. diese Arroganz kann man als Informationswissenschaftler in Deutschland mittlerweile verkraften. Viel wichtiger fände ich, dass die LIS Community in Deutschland daraus die Lehre zieht und konkret zu den Medienwissenschaften in dieser Strukturierung Stellung bezieht. Vielleicht gelingt uns ja auch ohne WR, DFG oder BMBF eine so deutliche Neustrukturierung. Könnten nicht sogar die Verbände hier mal Auftragsforschung betreiben? Genug der Träumereien, gestern hatte ich meinem Kanzler geschrieben, ich würde zu dem Papier nicht bloggen wollen – es sei die bits nicht wert…. Jetzt hat Web2 doch wieder viel Zeit verbraucht.

Über ein paar Kommentare vielleicht auch von offizieller Seite würde ich mich freuen.

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