Stabi als Fluchtort, als Ort der Askese

Buchausleihe in der Stabi

Im heutigen Tagespiegel gibt es einen schönen Text von Pascal Hugues (Le Point) zur Staatsbibliothek zu Berlin als dem „größten Arbeitszimmer Berlins – inklusive Zähneputzen , Teetrinken und einem kleinen Nickerchen“.

Der Lesesaal der Stabi ist ein modernes, großzügig geschnittenes Domizil. Man fühlt sich hier schnell zu Hause, der Saal strahlt weder die arrogante Würde der British Library aus noch die einschüchternde Schönheit der musealen Bibliotheken von Paris. In der minimalistischen Ausstattung der Stabi wird sich kein Mensch von dem in Jahrhunderten angehäuften Wissen bedrängt fühlen.

Aber warum um alles in der Welt vertauschen die reiferen Semester, die sich schon längst die Gasag-Rechnungen leisten können, ihr gemütliches Heim mit dem öffentlichen Raum? Simone de Beauvoir schrieb im Café de Flore, verbrachte ganze Tage an einem kleinen Marmortisch, die Teekanne immer in Reichweite. Die neue Bohème Berlins sitzt in den Cafés von Mitte, von wo aus sie per Notebook kommuniziert.

Der Lesesaal ist wie das Café: ein Fluchtort. Wer hier arbeitet, flieht vor den Ablenkungen zu Hause, der Klavierstunde der Nachbarstochter, den Kindern, die die Möbelstücke nach Lust und Laune herumschieben, das „Werbung bitte!“ des Prospektverteilers aus Sri Lanka, der mit seinem Klingeln den Gedankenfluss brutal unterbricht. In der Stabi gibt es weder Waschmaschine noch Fernseher, weder Telefon noch Kühlschrank. Der Lesesaal ist ein Ort der Askese.

In der Blockwoche mit dem Seminar „Bibliothekstypologie“ hatten wir (das 3. Semester des Bibliotheksstudiengangs) letzte Woche auch die Gelegenheit die Stabi zu besichtigen. Es war wirklich beeindruckend! (Vielen Dank noch mal an die Kollegen vor Ort.) Eine der Führungen wurde von Dr. Martin Hollender übernommen, der genau zu diesem Punkt der Unterschiede in den Bibliothekskulturen auf eine Textpassage von Harnack aufmerksam machte und mir den Text auch postwendend zukommen ließ. Deutsche Wissenschaftler arbeiten lieber zu Hause, bzw. außerhalb der Bibliothek, deshalb sei es immer noch Tradition in der Stabi, dass man dort im Gegensatz zu anderen Nationalbibliotheken seine Bücher ausleihen kann. Pascal Hugues – als Französin, sicher mit Centre Pompidou, Bibliothèque Nationale und eben dem Café Flore aufgewachsen – hat ein anderes Bibliotheksverständnis.

Dennoch kann ich mich zurzeit nicht entschließen, die Umwandlung der Königlichen Bibliothek in eine Präsenzbibliothek zu befürworten, und ich stütze mich für die Ablehnung auf das Urteil des sachkundigsten Mannes – Mommsen. Der Hauptgrund ist folgender: Wer ein Buch auf der Bibliothek für seine Studien benutzt, muß sich Exzerpte machen und bei Niederschrift seines eigenen Werks sich auf diese Exzerpte verlassen; dagegen, wer das Buch zu Hause benutzen kann, hat die Möglichkeit, es immer wieder, bzw. bis zuletzt bei seiner Arbeit einzusehen. Das ist ein ganz außerordentlicher Vorteil und ein großer Gewinn für die Gründlichkeit der Untersuchungen! Dazu kommt aber noch der andere Vorteil, daß der Gelehrte, welcher zahlreiche Bücher aus der Bibliothek benutzen muß, nicht an die Bibliotheksstunden gebunden ist, sondern bis tief in die Nacht hinein mit ihnen zu arbeiten vermag. Wenn dem deutschen Gelehrten besonderer Fleiß nachgerühmt wird, so ist es mir nicht unwahrscheinlich, daß die Möglichkeit, die Bücher der Bibliothek zu Hause bei der Lampe zu studieren, daran einen bedeutenden Anteil hat. (Harnack, Adolf von: Die Königliche Bibliothek in Berlin, in: Preußische Jahrbücher, 144. Band, April bis Juni 1911, S. 87-94; hier S. 92f. – Harnack bezieht sich auf folgenden Mommsen-Text, in dem dieser Gedanke wohl auch bereits aufgeworfen wurde: Mommsen, Theodor, in: Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten. 40. Sitzung vom 31. Jan. 1874; 26. Sitzung vom 1. Dez. 1877; 32. Sitzung vom 18. Jan. 1879; hier nach Mommsen, Über die Königliche Bibliothek, in: (ders.), Reden und Aufsätze, Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1905, S. 215-227.)

Dieses traditionelle Bibliotheksverständnis erklärt viel – gerade auch für die Berliner Staatsbibliothek. Ob allerdings die Arbeitsweise des Wissenschaftlers des ausgehenden 19. Jahrhunderts immer noch als Modell genommen werden kann, müsste diskutiert werden. Die Tatsache, dass in vielen anderen Ländern eher Präsenzbibliotheken üblich sind, und damit die Wissenschaftler und Studenten gezwungen sind, vor Ort zu arbeiten hängt aber sicher auch noch mit einer Reihe anderer (z.B. ökonomischer) Faktoren zusammen.

vgl, auch: Hollender, Martin: Die besondere, optimale Bibliothek Umberto Ecos – und warum sie nicht zu verwirklichen ist. In: Die besondere Bibliothek oder: Die Faszination von Büchersammlungen, hrsg. v. Antonius Jammers, Dietger Pforte und Winfried Sühlo, München: Saur, 2002, S. 275-294.

4 thoughts on “Stabi als Fluchtort, als Ort der Askese

  1. Greifeneder

    „Deutsche Wissenschaftler arbeiten lieber zu Hause, bzw. außerhalb der Bibliothek, deshalb sei es immer noch Tradition in der Stabi, dass man dort im Gegensatz zu anderen Nationalbibliotheken seine Bücher ausleihen kann.“

    Meines Wissens nach ist die StaBi keine Nationalbibliothek und deshalb ist es nicht ganz so unverständlich, dass man seine Medien auch ausleihen darf. Raritäten werden auch in der StaBi nicht ausgeliehen. Und die Deutsche Bibliothek – bzw. heute mit dem Titel Deutsche Nationalbibliothek – verleiht schließlich auch keine Medien.

    „In der minimalistischen Ausstattung der Stabi wird sich kein Mensch von dem in Jahrhunderten angehäuften Wissen bedrängt fühlen.“

    Wie charmant, dass mit der „einschüchternde[n] Schönheit der musealen Bibliotheken von Paris“ zu vergleichen.Ich bedauere es sehr, dass gerade in Deutschland immer wieder über die französischen Bibliotheken geredet wird, denn die wenigsten Autoren haben nicht einen Funken Ahnung davon haben. Wer einmal ein Bild von der BnF gesehen hat, oder gar einen Fachartikel gelesen hat, glaubt sofort, das französische Bibliothekssystem zu verstehen und mit dem deutschen vergleichen zu können. Die französische Nationalbibliothek ist weder einschüchternd schön, noch museal, sondern ähnelt vielmehr der – der StaBi zugeschriebenen – Beschreibung einer „minimalistischen Ausstattung“. Also was soll dieser völlig missglückte Vergleich die StaBi als den schönsten Arbeitsplatz der Welt darzustellen?

  2. Hans-Christoph Hobohm Post author

    Den letzten Abschnitt verstehe ich nicht ganz. Pascal Hugues und ich haben beide (owohl ich das bei der Französin nur vermute) lange in beiden Bibliotheken gearbeitet. Da gibt es schon Unterschiede, obwohl die Stellung von Stabi und BnF in ihrer jeweiligen Stadt (zumindest) sehr ähnlich ist. Dass Herr Dr. Hollender die Stabi mit den großen Nationalbibliotheken vergleicht und gerade ihren Unterschied herausarbeitet, liegt eindeutig in der Tradition dieser großen Bibliothek, die zumindest bis 1912 die Hauptfunktionen einer Nationalbibliothek übernahm. Die Deutsche Nationalbibliothek kam 2006 auch nicht ganz ohne Bauchschmerzen des Bundesrates zu ihrem neuen Namen, denn sie nimmt ja nur einen Teil der Aufgaben einer Nationalbibliothek wahr.

  3. Greifeneder

    Ich denke die Ähnlichkeit der Stellung der beiden Bibliotheken BnF und StaBi ergiebt sich ganz einfach aus der Tatsache, dass sie die jeweils größten Bibliotheken in einer relativ großen Stadt sind und die Wissenschaftler in die Bibliothek gehen, die möglichst nah und möglichst hilfreich für die Recherche ist. Vergleicht man den Medienbestand und die Anzahl der Personalstellen gibt es hingegen erhebliche Unterschiede.

    Es ist interessant zu wissen, dass Sie und Pascal Hugues in der BnF gearbeitet haben, denn ich habe selbige (Site Tolbiac) als aktiver Benutzer erlebt und ich habe sehr gerne darin gearbeitet und mich nicht unter Wissen erdrückt gefühlt. Und ich empfand die Vorwürfe als nicht gerechtfertigt. Wie oben beschrieben hakt der Vergleich mit der einschüchternden Schönheit der musealen Bibliotheken von Paris. Solche Bibliotheken gibt es zugegebenermaßen, aber sie sind von ihrer Bestands-Größe her nicht zu vergleichen mit der StaBi. Und wenn man vergleicht, dann sollte man dies aus meiner Sicht nicht in Generalien (Pariser Bibliotheken contra StaBi) machen.

    Auch mir ist bekannt, dass die StaBi Mitaufgaben einer Nationalbibliothek übernimmt, aber der oben zitierte Satz
    “ .. Stabi, dass man dort im Gegensatz zu anderen Nationalbibliotheken“ ist so schlichtweg falsch. Denn die StaBi kann nicht in Gegensatz zu anderen Nationalbibliotheken gestellt werden, da sie keine ist.

  4. Greifeneder

    Noch als erklärender Zusatz: Es tut mir leid, wenn ich oben den Autoren Unkenntnis (aus mangelner Unkenntnis meinerseits) vorgeworfen habe, aber ich habe leider zu oft erlebt, dass man Urteile über das französische Bibliothekssystem, insbesondere über die französische Nationalbibliothek fällt, ohne diese jemals besucht zu haben oder sich näher mit der gewichtigen Stellung des „Patrimoine“ beschäftigt zu haben. Und ich bedauere diese schwammigen und häufig durch Unkenntnis gezeichneten Aussagen, die sowohl auf deutscher als auch auf französischer Seite existieren. Ich habe der Jubiläumstagung zum 50ème du BBf beigewohnt und war erstaunt (und teilwiese entsetzt), was man dort alles über das deutsche Bibliothekssystem erzählte. Und ich würde mir wünschen, dass man aus genau diesem Grunde nicht einfach Vergleiche anstellt, die aufgrund divergierender Parameter ihre Aussagekraft verlieren und dem jeweils betroffenen Land nur schaden.

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